Mitja kam einen Tag nach seinem berechneten Termin zur Welt. Am 26. November sind wir abends noch zum Essen ausgegangen. Dabei haben wir uns vorgestellt, es wäre das letzte mal Essen gehen vor der Geburt. Das war aber ein ziemlich abwegiger Gedanke, denn wir konnten uns nicht vorstellen, dass Mitja wirklich am nächsten Tag zur Welt kommen könnte. Tatsächlich fiel es mir bis zum Schluss schwer zu glauben, dass jetzt wirklich der Tag der Geburt gekommen war.
Vor dem Schlafen gehen hatte ich an diesem Tag das unwiderstehliche Bedürfnis, die Geburtshaus-Tasche nochmal zu kontrollieren. Dabei hab ich mir aber nichts gedacht. Wie so oft habe ich vor dem schlafen gehen auch ein paar diffuse Wehen verspürt, aber mir auch dabei nichts gedacht. Die Nacht war auch noch wie immer. Um halb acht morgens bin ich dann aufgewacht mit deutlichen und regelmäßigen Wehen, die immerhin so stark waren, dass ich sie nicht ignorieren konnte. Also bin ich aufgestanden. Wir haben gefrühstückt und ich habe angefangen, die Wehen so zu veratmen wie ich es von den Hebammen im Geburtshaus gelernt hatte. So atmend und zählend hab ich dann einige Stunden auf dem Sofa gelegen und Radio gehört. Nebenbei haben wir versucht herauszufinden, in welchem Takt sich die Wehen wiederholten. Sie kamen schon relativ regelmäßig im Abstand weniger Minuten und dauerten etwa 90 Sekunden. Weil wir uns noch erinnerten, dass Laufen und Treppen steigen in solchen Situationen nicht verkehrt ist, haben wir uns auf den Weg zum Park gemacht und sind dort eine Runde spazieren gegangen. Wieder atmend und dabei zählend. Das war zwar anstrengend, aber trotzdem sehr angenehm und außerdem eine willkommene Abwechslung. Während der Wehen gab es jetzt auch was für den werdenden Vater zu tun: er musste in jeder Wehe mein Gewicht an seinem Arm halten während wir weiter liefen. Zwischendurch musste er mich daran erinnern zu atmen und nicht die Luft anzuhalten, wozu ich während der Wehen sehr neigte.
Nach dem Spaziergang haben wir wieder die Treppen zu unserer Wohnung im dritten Stock erklommen. Den Umständen entsprechend unfassbar langsam. Noch im Park haben wir den Beschluss gefasst, den Badewannentest zu machen, sobald wir zurück sind. Da zur Ausstattung unserer Wohnung leider keine Badewanne gehört, haben wir den Test eben in der Dusche gemacht. Dazu habe ich mich auf einen metallenen Bistro-Stuhl unter die Dusche gesetzt, während der zukünftige Papa mit einer Stoppuhr auf dem gegenüber liegenden Klo platznahm, um die Zeiten zwischen und während der Wehen zu stoppen. Würden die Wehen weggehen, könnten wir uns für diesen Sonntag was anderes vornehmen als fortwährend bis zwei ein- und dann bis vier auszuatmen. Vielleicht ein Kinobesuch oder sowas. Die Wehen gingen aber nicht weg. Sie wurden kürzer, kamen in kürzeren Abständen und blieben gleich stark. Nachdem sich meine Haut schon mit mehreren Litern Wasser vollgesogen hatte und ich das Gefühl bekam, langsam wasserlöslich zu werden und mit den prasselnden Tropfen im Abfluss zu versickern, brachen wir den Test ab. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Wir würden an diesem Sonntag wohl nur noch ein Ziel ansteuern und das würde kein Kino sein.
Gegen 13 Uhr haben wir also die erste Notfall-Nummer des Geburtshauses angerufen. Sabrina ging ran und hörte sich an, was bisher geschah. Sie sagte, dass sie noch bis 14 Uhr einen Termin im Geburtshaus hätte und schlug vor, dass wir danach ruhig mal vorbei kommen sollten, wenn wir möchten. Wir könnten natürlich auch jederzeit vorher kommen. Aber wir hatten es nicht eilig, denn die Wehen waren noch immer gut zu veratmen und wir waren entspannt. Also noch ein bisschen Radio gehört und Tee getrunken. Dann kam uns die Idee, noch eine Runde durch den Park zu laufen. Auf dem Rückweg wurden die Wehen schlagartig heftiger, so dass mir die Treppen zu unserer Wohnung nun als unüberwindliches Hindernis erschienen. Wir beschlossen, dass ich im Auto warten und der Papa die Tasche holen würde. Später stellte sich heraus, dass ich vergessen hatte, den Mutterpass einzupacken, nachdem ich ihn zehn Monate lang immer am Körper getragen hatte.
Auf dem 30 Meter langen Weg vom Auto zum Geburtshaus mussten wir zweimal anhalten, um Wehen zu veratmen. Während der Wehen war Laufen jetzt nicht mehr möglich. An der Tür zum Geburtshaus kam uns auch schon Sabrina entgegen. Es war zwei Uhr und sie wollte schnell noch mit ihrem Hündchen raus, um uns dann anzurufen. Das Hündchen hatte damit natürlich den Kürzeren gezogen.
Sabrina ließ uns rein, fragte den Status ab und verfrachtete mich relativ schnell in die Badewanne. Das war sehr angenehm. Dort haben wir weiter Wehen veratmet und relativ bald auch auf verschiedene Vokale getönt. Kurz darauf kamen auch Lisa und die Hebammenschülerin Nadine dazu, so dass wir dann zu fünft im Badezimmer saßen und tönten. Sehr schöne Akustik.
In unserer Geburtshaus-Tasche befand sich alles, was auf der Liste stand. Darunter auch Musik, um sich die Zeit zu vertreiben, bisschen was zu futtern, der Fotoapparat, verschiedene Klamotten für uns beide und das Baby, Zahnputzzeug und vieles mehr. Nichts davon sollten wir am Ende brauchen, weil alles so schnell ging.
Noch in der Badewanne durfte ich anfangen zu pressen. Dann pressen am Tuch hängend, pressen im Liegen, im Hocken, im Knien, nochmal im Liegen und nochmal in der Hocke und so weiter. Langsam ging mir echt die Puste aus und auch Lisa und Sabrina waren der Meinung, es müsste bald soweit sein. Nach einem für alle Beteiligten sehr anstrengenden und für mich sehr schmerzhaften Endspurt kam um 16:16 Uhr der Kleine zur Welt. Im ersten Moment spürte ich im wahrsten Sinne des Wortes eine große körperliche Erleichterung. Ich konnte Mitja in diesem Moment noch nicht sehen, aber vor allem konnte ich ihn nicht hören. Kein Schreien. Uns war sofort klar, dass irgendwas nicht stimmte. Lisa und Sabrina nabelten ihn sofort ab und brachten ihn zum Wickeltisch. Lisa sagte was von Sauerstoff und beatmen und fing an, den Kleinen sehr zügig und routiniert zu bearbeiten. Sabrina rief im selben Moment schon einen Notarzt. Als wir sahen wie Lisa das Baby schließlich von Mund zu Mund beatmete und wir immernoch nichts hörten, bekamen wir Panik und befürchteten schon das Schlimmste. Alle Hebammen taten währenddessen ihr bestes, um uns zu beruhigen und erklärten uns mehrmals, dass der Herzschlag einwandfrei sei. Dann plötzlich nach einer gefühlten Ewigkeit konnte man endlich ein kleines Husten hören. Und noch eins und dann auch ein Schreien. Uns fiel ein riesen Stein vom Herzen. Diese wenigen Sekunden kamen uns vor wie Stunden. Unser Herzschlag war in diesen Sekunden sicher nicht einwandfrei. Und dann waren auch schon die Rettungswagen da. Gleich zwei und dazu noch ein Kinder-Not-Mobil. Der Raum war plötzlich voll mit Notärzten und Sanitätern, von denen die meisten etwas unterfordert rumstanden.
Mitja hat es sich nicht nehmen lassen, alle Hebammen, Ärzte und Sanis mit Kindspech zu beglücken. Der Kleine wurde in den folgenden Minuten gründlich durchgecheckt. Er hatte Fruchtwasser eingeatmet, weshalb er nicht sofort atmen konnte. Außerdem trug er die Nabelschnur wie eine Schärpe quer um seinen Körper gewickelt, so dass er festhing und es ein bisschen schwer hatte, rauszukommen. Jetzt ging es ihm aber schon super. Er schrie wie am Spieß und hatte eine sehr gesunde Hautfarbe. Man beschloss, ihn für eine Nacht zur Beobachtung ins Krankenhaus mitzunehmen. Wir konnten ihn deshalb nur einmal kurz für wenige Minuten in unsere Arme schließen und auf der Welt begrüßen, bevor er schonwieder verschwunden war. Mit zwei netten Damen verließ er kurz nach seiner Geburt das Haus. Der wollte wohl nichts anbrennen lassen…
Lisa und Sabrina haben sich in den folgenden zwei Stunden sehr lieb um uns gekümmert und mit allem nötigen versorgt (Dusche, Pizza, Kaffee, Dammnaht, beruhigende Worte etc.), bevor wir dem Kleinen hinterherfahren konnten. Auch ins Krankenhaus haben die beiden uns noch begleitet. Das war super, denn wir waren ganz schön durch den Wind.
Trotz des fürchterlichen Schreckens, den Mitja uns allen eingejagt hat, haben Lisa und Sabrina extrem schnell, besonnen und professionell reagiert und unserem kleinen Jungen damit das Leben gerettet. Falls Mitja eines Tages ein Geschwisterchen bekommen sollte, wird dieses auf jeden Fall auch im Geburtshaus zur Welt kommen. Da ist man einfach in den besten Händen!