Lilith Carlotta, 25. März 2012
Die Geburt unserer Tochter Lilith Carlotta war für uns beide ein sehr eindrucksvolles Ereignis – mit wundervollem Ausgang. Daher haben wir beide jeweils einen Geburtsbericht aus unserer eigenen Sicht geschrieben.
Die Geburt aus Carstens Sicht:
Zur Abwechslung mal ein Geburtsbericht aus männlicher (also hilflos mitleidender) Sicht:
Nachdem uns das Umfeld (Frauenärztin und Hebammen) darauf vorbereitet hatte, dass es sich um ein großes und schweres Kind handeln wird (letzte Schätzung der Frauenärztin: 56 cm und 4.100 g, aber „nur“ 32 cm Kopfumfang), welches möglicherweise vor dem errechneten Geburtstermin (21.03.2012) kommt, waren wir im Zeitpunkt um den Termin herum dann doch langsam etwas aufgeregt. Ich hatte bei der Arbeit mein Handy immer an, zumindest auf Vibration. Der errechnete Geburtstermin verstrich allerdings, ohne dass irgendetwas passierte. Kathrin hatte nur wie auch schon einige Zeit zuvor immer mal wieder Senkwehen, die aber nicht schmerzhaft waren. Wir hatten dann die Hoffnung, dass es am Wochenende dann losgeht. Der Freitag und der Samstag vergingen aber wie die anderen Tage auch. Am Samstag haben wir dann noch „dringende“ Dinge erledigt, zu denen man später nicht mehr kommt oder keine Lust mehr hat (Einkaufen, Autowaschen). Ich war am Mittwoch sogar extra noch mal beim Friseur … . Am Samstag war Super-Wetter, so dass wir noch in die Stadt gingen und uns ins Café gesetzt haben. Den Abend haben wir dann so vertrödelt, ich habe Sportschau geschaut … (und dabei zum Glück immerhin eine Stunde geschlafen). Dann fiel uns noch ein, dass wir unsere wöchentlichen „Bauch-Fotos“ noch machen wollten. Das haben wir dann auch gemacht, das letzte Foto war um 0.53 Uhr (also schon am Sonntag, 25.03.2012) Im Kasten. Dann sind wir langsam ins Bett gegangen. Um kurz nach 2.00 Uhr fiel Kathrin auf, dass ja Zeitumstellung ist und es also jetzt schon 3.00 Uhr ist und dass wir jetzt mal endlich schlafen sollten. Ich habe dann um kurz nach 3.00 Uhr das Licht ausgemacht.
Aber schon nach ca. 10 Minuten krümmte Kathrin sich unter der ersten (echten) Wehe. Am Anfang haben wir das noch nicht so ernst genommen, wir hatten uns eher auf eine Hängepartie von mehreren Stunden eingestellt – so wie das bei Erstgebärenden halt üblich ist und wie Kathrin das in diversen (gefühlt 8.000) Geburtsberichten gelesen hat. Kurze Zeit später kam aber schon die zweite Wehe, Kathrin hatte starke Schmerzen und konnte schon nicht mehr liegen, sondern musste aufstehen. Sie hatte sogar ein schlechtes Gewissen, weil sie mich vom Schlafen abhalten würde und hat mir sogar angeboten, dass ich die Nacht im Gästezimmer schlafen könne … . Das wollte ich dann überraschenderweise aber doch nicht ?.
Ich fing an, auf die Abstände der Wehen zu achten. Es ging los mit 7 Minuten, Kathrin sprang immer aus dem Bett auf und ging entweder ins Badezimmer, um sich dort auf den Toilettenrand zu setzen, oder hielt sich bei besonders starken Wehen stehend an der Fensterbank fest. Für mich war das natürlich lange nicht so belastend/schmerzhaft wie für Kathrin, aber irgendwie auch blöd, weil ich gesehen habe, wie sehr Kathrin mit den Schmerzen kämpft, ich aber nichts machen konnte.
Die Abstände wurden kürzer, zunächst vier Minuten, dann aber nach nicht allzu langer Zeit bereits zwei Minuten. Kathrin hielt tapfer durch, aber es müssen ersichtlich höllische Schmerzen gewesen sein. Dass die Abstände und damit die Erholungspausen immer kürzer wurden, machte es nicht besser. Die Phase des Veratmens und des sog. Vertönens der Wehen hat Kathrin dann auch mal ganz elegant übersprungen und ist direkt zum Schreien übergangen. Ich wette, einige unserer Nachbarn hatten schon die Hand an der Wählscheibe, um die Polizei zu rufen (unsere Nachbarschaft ist eher fortgeschritteneren Alters).
Kathrin bat dann so gegen 5.00-5.15 Uhr, dass ich Jule, unsere Hebamme, anrufen soll. Wir hatten aber im Geburtsvorbereitungskurs gelernt, dass man abwarten soll, bis die Wehen über einen Zeitraum von zwei Stunden im Abstand von zwei Minuten kommen. Deswegen schlug ich ihr vor zu duschen, um zu sehen, ob es jetzt tatsächlich losgeht oder ob die Wehen dann wieder nachlassen (jetzt wo ich das gerade schreibe, kommt mir das im Nachhinein reichlich behämmert vor – zu meiner Entschuldigung: wir gingen ja von einer „Hängepartie“ aus).
Um 5.25 Uhr war dann sogar ich überzeugt und ich rief bei Jule an. Ich dachte immer noch: bestimmt voll peinlich, weil sie wohl sagen wird, dass das alles ganz normal ist, dass wir noch abwarten sollen und dass sie dann mal in zwei oder drei Stunden oder so vorbeikommt. Jule hörte aber nur Kathrin im Hintergrund schreien und meinte, dass sie sich sofort auf den Weg macht. Um kurz vor 6.00 Uhr war sie auch schon bei uns und hat Kathrin untersucht. In der Zwischenzeit habe ich mein kleines Geburtshaus-Täschchen gepackt, Kathrin hatte ihre Sache schon (einige Wochen) vorher bereit gestellt. Da Kathrin und ich uns im Vorfeld nicht sicher waren, ob ich (im Rahmen der Hängepartie) eventuell mit in die Geburtswanne soll, fing ich dann an, hektisch meine Badehose zu suchen, die ich erst nach zweimaligem Durchsuchen des Schranks gefunden habe (deren Fehlen sich aber im weiteren Verlauf ohnehin als vollkommen überflüssig herausgestellt hätte).
Die Untersuchung von Jule ergab, dass der Muttermund bereits 5 cm eröffnet war (und das nach nicht mal drei Stunden), da hat sich mein Mund auch erstmal (vor Staunen) eröffnet. Jetzt wurde mir klar: Das Kind kommt tatsächlich HEUTE, kein Witz, kein falscher Alarm. Jule fuhr voraus ins Geburtshaus, um schon mal das Badewasser einlaufen zu lassen und sonstige Vorbereitungen zu treffen. Ich packte den Rest, insbesondere die Unmengen an Snacks und Keksen, die wir für unsere (vermeintliche) Hängepartie gekauft hatten. Kathrin litt weiter unter starken und kurz aufeinander folgenden Wehen und schrie ihren Schmerz heraus. Als ich den Wagen noch die paar Meter direkt vor die Haustür fuhr, um den Laufweg für Kathrin noch ein wenig zu verkürzen, hörte ich vorne auf der Straße ihre Schreie sehr deutlich, obwohl das Schlafzimmer nach hinten liegt.
Als Kathrin am Auto angekommen war, stellte sich das nächste Problem: Welche Fahrposition? Da die Schmerzen so schlimm waren „entschloss“ sich Kathrin intuitiv, sich auf dem Beifahrersitz aufrecht mit dem Kopf nach hinten hinzuknien und sich mit den Händen an der Rückenlehne festzukrallen. Ich fuhr dann los. Da ich anfangs noch wenig mit beschlagenen Scheiben zu kämpfen hatte, fuhr ich zunächst sehr langsam. Ich wollte ja nicht im Blindflug noch einen Unfall verursachen (genau das war mir nämlich vor einigen Jahren mal passiert – allerdings ohne mit den Wehen kämpfender Frau auf dem Beifahrersitz). Kathrin bettelte darum, dass ich schneller fahren sollte, damit sie schnell ins Geburtshaus kommt. Wir mussten dann an der Polizei (Stapenhorststr./Kurt-Schumacher-Str.) vorbei, unsere Ampel war rot. Kathrin herrschte mich an, ich solle endlich über die rote Ampel fahren. Ich hatte aber Sorge, dass genau in dem Moment, in dem ich das tue, ein Streifenwagen mit einem Nachdienst schiebenden und daher schlecht gelaunten Polizisten um die Ecke biegt und ich erstmal langwierige Diskussionen mit dem führen muss, bevor der uns weiterfahren lässt. Deswegen entschloss ich mich – gegen den erbitterten und (nun ja, wohl nicht ganz unberechtigten) – Widerspruch von Kathrin, die 30 Sekunden Rotphase abzuwarten. Ich muss allerdings gestehen, dass mir aufgrund der Schmerzensschreie von Kathrin zu diesem Zeitpunkt (das erste, aber nicht das letzte Mal) die Tränen in den Augen standen. Dann ging es aber weiter über die zum Glück menschen- und autoleeren Straßen eines frühen Sonntagmorgens.
Am Geburtshaus angekommen, habe ich zum völligen Unverständnis von Kathrin dann erstmal den Wagen gewendet, ich dachte halt, je kürzer sie laufen muss, desto besser. Hhmmm, wieder falsche Entscheidung. Kathrin ging den Weg zum Geburtshaus hoch und wurde von Jule in Empfang genommen. Ich parkte und trug unsere Sachen rein. Wir hatten uns natürlich akribisch auf (nahezu) alle Eventualitäten vorbereitet, so dass ich diverse Taschen und Beutel herein trug, was Jule zu der Frage veranlasste, ob wir im Geburtshaus einziehen wollten … .
Kathrin ist sofort in die Wanne, was die Schmerzen ein wenig linderte. Die Wehen ließen aber in Heftigkeit und Abstand nicht nach. Die Untersuchung ergab, dass der Muttermund schon 7-8 cm eröffnet war, es ging also noch schneller voran. Inzwischen traf auch Marit, die zweite Hebamme, ein. Kathrin schickte uns alle aus dem Badezimmer, da sie nicht wollte, dass wir sie so leiden sehen. Jule dachte wohl, dass mich das irritieren könnte und versicherte mir, dass Kathrin das alles nicht so meinen würde. Dessen war ich mir – obwohl ich ein Mann bin – aber durchaus bewusst.
(Gegen Kathrins ausdrückliche Anweisung) schickte ich ihrer Mutter eine SMS, dass wir jetzt im Geburtshaus sind und dass alles in Ordnung ist (war es ja irgendwie auch – mal abgesehen von den fürchterlichen Schmerzen). Meinen Eltern schickte ich absprachegemäß eine E-Mail (dort besteht keine so große Handy-Affinität) – die sie (nicht absprachegemäß) erst am nächsten Abend zur Kenntnis nahmen, also als schon alles vorbei war.
Als wir zu dritt – Jule, Marit und ich – im Geburtszimmer saßen (Kathrin war noch in der Badewanne) meinten die beiden zu mir, dass es, wenn es in diesem Tempo weitergehen würde, in ca. einer Dreiviertelstunde vorbei wäre. Die Übergangsphase sei bereits zu Ende (die Eröffnungsphase ist im Eiltempo an uns vorüber gezogen); eigentlich hätte Kathrin schon Presswehen, wenn sie diese denn zulassen würde. Wir befanden uns also schon in der so ominösen „Austreibungsphase“.
Jule und Marit „befahlen“ Kathrin, aus der Wanne zu kommen, um eine andere Geburtsposition einzunehmen. Überhaupt: Die beiden haben das super gemacht, sie haben sich zurückgezogen, wenn Kathrin allein sein wollte (und dies medizinisch vertretbar war), waren aber immer präsent und haben klare Anweisungen gegeben. Wir hatten immer das Gefühl, dass sie alles im Griff haben und hier alles nach Plan verläuft.
Kathrin verschwand dann auf der Toilette, um noch mal die Blase zu entleeren, bis es dann richtig mit den Presswehen losgeht. Ging aber nicht, wir hörten sie aber auf der Toilette schreien. Jule und Marit haben hinterher gesagt, sie hätten ernsthaft damit gerechnet, dass Kathrin das Kind auf der Toilette bekommt. Kathrin hat das in dem Moment auch für nicht unwahrscheinlich gehalten.
Jule hat dann den Vorschlag von Kathrin, es auf dem Geburtshocker zu versuchen, abgelehnt und ihr eine hockende Position vor dem Bett angeraten, bei der ich hinter Kathrin auf dem Bett saß und sie sich auf meinen Oberschenkeln abstützen konnte. Das ging sehr gut, die Wehen waren zwar immer noch sehr stark, aber die Abstände wurden etwas größer, so dass Kathrin zumindest geringfügig längere Erholungsphasen hatte. Als in wenig Stillstand eintrat, wechselte Kathrin in eine halb liegende Position. Das ging aber nicht so gut, deswegen gingen wir wieder in die vorherige Position zurück. Auch für mich stellte sich die neue Situation etwas befreiender dar. Ich konnte aus meiner bis dahin still und passiv mitleidenden Rolle heraus und endlich mal etwas Sinnvolles tun und Kathrin aktiv und spürbar ein wenig unterstützen.
Es ging jetzt richtig voran, Jule sagte, sie könne bereits eine kleine Locke unserer Tochter sehen ?. Das Angebot, sich das mit Hilfe eines Spiegels mal anzusehen, haben wir dann aber doch lieber dankend abgelehnt … . Schlimm für Kathrin war dann noch mal der Punkt, an dem das Köpfchen bereits „halb“ draußen war und sie auf die nächste Wehe warten musste (Stichwort: eine Melone durch eine Öffnung der Größe einer Zitrone pressen …). Mit der nächste Wehe war dann aber das Köpfchen geboren, Hurra!!! Jetzt fehlte nur noch der Rest. Leider sind die Schultern dann nicht ganz komplikationslos herausgekommen, da kam es zu einer Geburtsverletzung (für Fachleute: DR2). Dann war unsere kleine Lilith Carlotta aber draußen und lag am 25.03.2012 um 8.56 Uhr bei strahlendem Sonnenschein vor uns auf dem Boden!!! Ich war sehr erleichtert, weil sie ganz „normal“ aussah (alles dran und so). Sie gab auch sofort Laut, so dass klar war, dass sie begonnen hatte zu atmen, Gott sei Dank. Sie war nur ein wenig blau, was ihr bei der ersten APGAR-Untersuchung nur den Wert 8 einbrachte, wurde dann aber schnell rosig, so dass sie bei der zweiten und dritten APGAR-Untersuchung bereits die Höchstpunktzahl 10 erreichte!!
Jule und Marit machten sie mit dem Handtuch ein wenig sauber und gaben sie Kathrin. Das war toll, unser kleines Wesen das erste Mal im Arm zu haben (Kathrin) bzw. aus der Nähe zu sehen und anfassen zu können (ich). Nachdem die Nabelschnur auspulsiert war, schnitt Kathrin sie höchstselbst durch. Das konnte ich irgendwie nicht. Das hatte ich mir bereits im Vorfeld nicht so richtig vorstellen können, das zu machen.
Jule hat Lilith Carlotta dann gewogen und gemessen und zu unserer Überraschung festgestellt, dass sie kleiner und leichter war, als prognostiziert (bzw. befürchtet):
Größe:52 cm,
Gewicht: 3.920 g,
Kopfumfang. 36,5 cm.
Dann haben wir die Kleine wiederbekommen. Als sie dann das erste Mal auf meiner Brust lag, war das Gefühl unbeschreiblich (Tränen inklusive). Ich könnte heute (eine Woche später) noch manchmal spontan heulen, wenn ich daran zurückdenke.
Leider begannen jetzt die etwas unschönen Dinge. Wir merkten, dass Jule ein bisschen Druck machte wegen des Mutterkuchens. Wenn der nämlich innerhalb von einer Stunde nach der Entbindung nicht draußen ist, muss zwingend ins Krankenhaus verlegt werden. Kathrin hatte zwar noch ausreichend Wehen, der Mutterkuchen kam aber nicht. Auch Akupunktur und eine Spritze mit Oxytocin halfen nicht. Um kurz vor 10.00 Uhr gab Jule das Signal, dass Kathrin jetzt ins Franziskus-Hospital verlegt werden müsse und rief den Rettungswagen. Ins Krankenhaus hätten wir zwar wegen der Geburtsverletzung ohnehin gemusst. Das fanden wir aber trotzdem ein wenig schade, weil wir uns so schön ausgemalt hatten, noch in Ruhe mit Jule und Marit zu frühstücken (Lebensmittel hatten wir ja genug dabei – Hängepartie, s.o.), bevor wir als neue kleine Familie nach Hause fahren.
Kurze Zeit später kamen die Rettungssanitäter, die leider ein wenig geschäftige Hektik verbreiteten, was in diametralem Gegensatz zu der angenehmen und privaten Stimmung stand, die Jule und Marit verströmt hatten. Die Sanis gingen dann kurz raus, um eine Trage zu holen, da Kathrin aus Sicherheitsgründen liegend transportiert werden sollte. Als die wieder rein kamen, fiel mir mal sofort unangenehm auf, dass die Sanis die Zeit „sinnvoll“ genutzt hatte, um draußen noch schnell eine zu rauchen, ein sehr leckerer Geruch am frühen Morgen nach einer Nacht ohne Schlaf …
Jule fuhr mit Kathrin im Rettungswagen mit. Ich blieb mit Marit und der Kleinen noch kurz im Geburtshaus, um die Kleine anzuziehen und unsere Sachen zusammenzupacken. Dann fuhren auch wir ins Krankenhaus – ich das erste Mal mit einem „befüllten“ Maxi-Cosi … !!!
Dort angekommen warteten zunächst mal schlechte Nachrichten. Auch den Ärzten war es nicht auf Anhieb gelungen, den Mutterkuchen heraus zu bekommen, es musste daher unter Vollnarkose operiert werden. Es rannten ein Haufen Leute durch den Kreißsaal –diensthabende Ärztin, noch eine Ärztin, der Oberarzt (der echt super-nett war), der Anästhesist, eine (echt mies gelaunte) Hebamme, eine Krankenschwester, … . Es ging dann los mit den Aufklärungen vor der OP. Ist klar, muss sein, dass man immer über das Worst-Case-Szenario sprechen muss. Es ist aber in dem konkreten Moment nur so mittel-angenehm, gesagt zu bekommen, dass im schlimmsten Fall Kathrins Gebärmutter entfernt werden muss. Es bestand nämlich die Gefahr, dass der Mutterkuchen in die Gebärmutter eingewachsen ist, was erhebliche Komplikationen hervorrufen kann. Kathrin war, obwohl sie Operationen unter Vollnarkose mit vollem Herzen verabscheut, sehr ruhig und gefasst, wie ich fand. Das mag daran gelegen haben, dass sie durch die Geburt völlig ausgepumpt war. Ich bin dann mit der Kleinen wieder raus zu Jule und Marit, die im Nebenzimmer warteten. Als die Kleine anfing zu schreien, haben die beiden mich an den im Geburtsvorbereitungskurs gelernten Trick erinnert: den kleinen Finger in den Mund stecken, das klappt tatsächlich!!!
Zum Glück dauerte es nicht lange und der Oberarzt kam zu uns und gab Entwarnung. Der Mutterkuchen hatte sich nur an der Gebärmutter festgesaugt und hat sich mit ein wenig Zieherei dann doch ohne Folgekomplikationen lösen lassen. Da dann nur noch die Geburtsverletzung genäht worden ist, wobei nun wirklich nichts mehr schief gehen kann, habe ich erstmal unsere Eltern angerufen. Kathrins Eltern habe ich erreicht, die waren froh, aber wohl auch ein wenig besorgt wegen der OP. Meine Eltern habe ich (zunächst) nicht erreicht (s.o.: fehlende Handy-Affinität). Das im gesamten Kreißsaalbereich striktes Handyverbot herrscht, habe ich überhaupt nicht mitbekommen (die im Normalzustand wirklich nicht zu übersehenden Hinweisschilder mit durchgestrichenen Handys habe ich tatsächlich nicht wahrgenommen). Jule und Marit passten solange auf die Kleine auf, machten sich danach aber mal auf den Weg. Die beiden waren sowieso überobligatorisch lange dabei. Auch dafür nochmals ganz herzlichen Dank an die beiden.
Kathrin war dann fertig operiert und ich durfte in den OP-Saal. Ich merkte plötzlich, was ich für einen Hunger hatte und fing an, das Erstbeste in mich hineinzustopfen: Toffifee (wir hatten selbstverständlich die Doppelpackung dabei). Kathrin wachte auf und hatte Hunger und Durst und aufgrund der Intubation sehr unangenehme Halsschmerzen. Sie durfte aber wegen der Narkose für ca. sechs Stunden nichts essen und trinken, das war noch mal schlimm.
Wir kamen dann in den Nebenraum, weil der Kreißsaal ggf. gebraucht würde. Dort saßen/lagen wir drei dann und waren alle ganz schön fertig. Leider muss ich jetzt noch mal negativ werden: Die (nicht medizinische) Betreuung im Krankenhaus habe ich als nicht besonders positiv empfunden. Um die Kleine hat sich anfangs keiner gekümmert, erst im Nachhinein haben wir von der (sehr sehr netten) Schwester, die später Nachdienst hatte, erfahren, dass sie sofort etwas zu trinken hätte bekommen müssen. Zwar hat die diensthabende Still- und Laktationsberaterin so gegen 15.00 Uhr mal kurz nach uns gesehen und angekündigt, dass sie gleich kommen werde, um einen Stillversuch zu unternehmen. Das hat dann aber noch mal über eine Stunde gedauert und war auch – obwohl der erste Stillversuch nicht sonderlich von Erfolg gekrönt war – schnell wieder beendet. Auch die Bereitstellung eines Kinderbetts hat relativ lange gedauert, bis dahin lag/saß die Kleine im Maxi-Cosi (was ja bekanntlich auf Dauer nicht besonders rückenschonend ist). Insgesamt hat sich bei mir ein wenig der Eindruck festgesetzt, dass wir von Seiten des Krankenhauses als Fremdkörper im Klinikbetrieb angesehen worden sind. Die Hebamme hat uns auch – ohne das zu verbalisieren – recht deutlich zu verstehen gegeben, was sie davon hält, erst im Geburtshaus zu gebären und dann, wenn es Schwierigkeiten gibt, ins Krankenhaus zu kommen und dort den geregelten Betrieb durcheinander zu bringen. Bei einigen Krankenschwestern habe ich das ähnlich, wenngleich nicht so deutlich, empfunden. Dabei möchte ich anmerken, dass ich durchaus Verständnis für die Einhaltung von Abläufen und Regeln habe. Ich meine gleichwohl, dass das so nicht hätte ablaufen müssen. Dass es anders geht, zeigen schließlich die fast ausnahmslos wesentlich positiveren Erfahrungen in der Folgezeit unseres Krankenhausaufenthalts.
Damit kann ich jetzt endlich wieder positiv werden: Eine andere Krankenschwester hat sich dann um uns gekümmert und mir eine Sitzbank bezogen, auf der ich erstmal eine Stunde geschlafen habe. Außerdem ist es durch Hin- und Herschieberei möglich gemacht worden, dass wir ein Familienzimmer bekommen, was ich den handelnden Personen wirklich sehr hoch anrechne. Wir sind dann gegen 16.30 Uhr in unser eigenes kleines Reich gezogen. Die dann diensthabende Nachtschwester war wirklich ganz toll. Wir haben dann sogar noch „Abendessen“ (um 17.30 Uhr!) bekommen. Zu diesem Zeitpunkt waren schon Kathrins Eltern und ihre Schwester da (meine Eltern wohnen zu weit weg für einen kurzen Abstecher). Abends lagen wir todmüde, aber glücklich im Bett und haben erstmal ein wenig geschlafen – naturgemäß mit diversen Fütter-Unterbrechungen, was für Kathrin und mich noch reichlich ungewohnt war.
Am nächsten Morgen wurden wir um 7.45 Uhr geweckt, als es Frühstück gab. Ich bin dann mit der Kleinen zur Hüftsonographie gegangen – das sehr aufregend: Das erste Mal ganz alleine mit der Kleinen auf einer Mission. Dabei tat sich dann auch schon das erste Problem auf: Die Ärztin bat mich, Lilith untenrum frei zu machen. Bei der Entfernung der Windel stellte sich heraus, dass Lilith den ersten Stuhlgang ihres Lebens hatte – sehr gut, die Vitalfunktionen funktionieren! Etwas schwieriger gestaltete sich dann allerdings die Aufgabe, ein sauberes Kind bei der Ärztin abzugeben. Mit einigen Feuchttüchern, die mir die Ärztin gab, gelang mir auch dies. Freundlicherweise zeigte mir die Ärztin später auch, wie man eine neue Windel unfallfrei an das Kind bekommt ;-). Zum Glück war die Hüfte in Ordnung und der Lütten bleibt eine Hüftspreizhose erspart. Auch der Moro-Reflex funktionierte, so dass klar war, dass sie keinen Schlüsselbeinbruch, o.ä. davongetragen hat.
Kathrin und ich haben dann entschlossen, doch erstmal im Krankenhaus zu bleiben. Kathrin war ganz schön angeschlagen, so dass es für sie nicht gerade verlockend war, nach Hause zu kommen, wo wir beiden alles ganz allein hätten bewältigen müssen. Außerdem bestand bei der Kleinen die Gefahr einer Neugeborenengelbsucht, dann hätten wir sowieso wieder ins Krankenhaus gemusst. Das war – auch im Nachhinein – die richtige Entscheidung.
Ich bin dann erstmal kurz nach Hause, um ein paar Sachen zu holen. Auf einen längeren Krankenhausaufenthalt waren wir ja – trotz unsere Berge von Gepäck – gar nicht vorbereitet (na ja, ich hatte immerhin eine Unterhose zum Wechseln mit …!). Den Nachmittag und Abend haben wir dann wieder zu dritt in unserem Familienzimmer verbracht. Nachmittags kam auch noch Kathrins Mutter vorbei. Nach einer relativ unruhigen Nacht musste ich dann am nächsten Morgen für einen Tag zur Arbeit (das war nicht anders zu organisieren), was mir sehr schwer gefallen ist. Unschön war dann wiederum, dass sich aufgrund dessen eine Krankenschwester am Vorabend zu dem Kommentar hat hinreißen lassen, dass der Sinn und Zweck des Familienzimmers ja eigentlich sei, dass der Vater dann auch anwesend ist. Das kann ich zwar im Grundsatz verstehen, hat mich allerdings so wütend gemacht, dass ich am liebsten sofort von diesem jetzt wieder ungastlichen Ort verschwunden wäre. Aber auch dieser Zorn ging vorüber … .
Am Mittwoch sollten wir dann nach der U2 entlassen werden. Bedenken bestanden lediglich wegen des nochmals leicht erhöhten Gelbsuchtwerts. Die Kinderärztin hat das aber als nicht so dramatisch eingeschätzt. Auch ansonsten war bei der U2 alles in Ordnung, so dass wir am Nachmittag das erste Mal als kleine Familie zu Hause ankamen.
Das alles war wirklich sehr aufregend und ist es auch nach einer Woche immer noch. Wir sind sehr glücklich und genießen unsere Zeit zu dritt. Aus meiner Sicht – ich war ja auch nicht derjenige, der diese höllischen Schmerzen der Geburt ertragen musste – würde ich alles wieder genau so machen.
Vor allem vielen Dank an Jule und Marit, die die Geburt ganz toll begleitet haben – und natürlich an Kathrin, die Liebe meines Lebens, die mir unser kleines Goldstück Lilith Carlotta geschenkt hat.
Die Geburt aus Kathrins Sicht:
In Bezug auf die Geburt war ich absolut entspannt. Ich hatte in der Schwangerschaft ungelogen mindestens 600 oder 700 Geburtsberichte im Internet gelesen. Ich war fast schon süchtig danach. Immer, wenn ich ein bisschen Zeit hatte – ob beim Frühstücken, im Bad beim Zähneputzen, abends im Bett oder jederzeit dazwischen – nahm ich mein iPad oder mein iPhone und las Geburtsberichte. Meistens bei urbia.de, da gab es nämlich die meisten. Am liebsten waren mir die ganz langen, detaillierten. Mittlerweile kannte ich so ziemlich jede Komplikation, die man haben konnte und sämtliche Geburtsvariationen waren mir vertraut. Angst machte mir das alles kein bisschen – im Gegenteil. Ich wusste, was alles passieren konnte und wie es laufen konnte und war dadurch ganz ruhig und mir relativ sicher, dass es bei mir schon irgendwie ganz gut laufen würde. Ich war mir auch sicher, dass es zwar schmerzhaft, aber noch erträglich sein würde – auch deshalb, weil ich so entspannt an die Sache heranging. Ich hatte gelesen und für einleuchtend befunden, dass der Körper nur solche Wehen produziert, die man noch aushalten kann. Wenn ich da schon gewusst hätte, was das für Höllenwehen sein können…
Eigentlich hatten wir schon viel früher mit der Geburt gerechnet. Bereits beim Vorsorgetermin am 20. Februar 2012 hatte Frau meine Frauenärztin das damals aktuelle Gewicht auf 3.100 g und die Größe auf 51 cm bestimmt. Außerdem hatte die Kleine guten Bezug zum Becken, so dass die Ärztin meinte, man könne das zwar nie so genau sagen, aber sie glaube eigentlich nicht, dass ich den Termin erreichen würde. Da mein Bauch sich auch schon deutlich sichtbar gesenkt hatte, waren auch alle anderen dieser Ansicht; auch unsere Vorsorgehebamme Jule aus dem Geburtshaus wagte die Prognose, dass ich wohl eher nicht übertragen würde.
Ich selbst ging auch davon aus, dass es wohl mindestens zwei Wochen vor dem Termin was werden würde – dementsprechend vereinbarte ich am 20. Februar auch gar keinen Folgetermin bei der Ärztin.
Aber obwohl ich schon einige Senkwehen und auch ein paar vereinzelte leichte andere Vorwehen gehabt hatte – insbesondere nach den jeweiligen Akkupunkturterminen bei Jule – ging ich doch über den Termin. Und wurde immer ungeduldiger und vor allem ängstlich, dass sich das Baby erst so spät auf den Weg machen würde, dass es für eine Geburt im Geburtshaus zu spät wäre und ich doch noch ins Krankenhaus zur Einleitung müsste. Denn wenn man schon seit vier Wochen ständig mehr oder weniger in Habachtstellung verharrt und alle einem gesagt haben, dass es bestimmt vorher losgehen wird, dann wird man doch irgendwann etwas unruhig. Irgendwie fühlte es sich dann auch fast schon irreal an, dass das Baby überhaupt bald kommen würde… Also habe ich versucht, die eventuell letzten Tage, die ich ganz für mich alleine hatte, soweit wie möglich zu genießen. Es war wunderbares Frühlingswetter und ich habe mehrere Nachmittage bücherlesend in der Sonne auf der Terrasse verbracht.
Irgendwann ließ ich mir dann doch noch einen weiteren Vorsorgetermin bei der Ärztin geben. Alles war gut, die Plazenta war kaum verkalkt (nur 1. Grades, das geht wohl von 0 bis 3), mit dem Kind war alles bestens, der Muttermund war gut fingerdurchlässig und das Köpfchen nicht mehr abschiebbar. Also konnte es eigentlich losgehen. Das einzige, was mir ein bisschen Sorge bereitete, waren die geschätzte Größe und das Gewicht: Die Ärztin maß extra dreimal nach und meinte, sie würde eigentlich gut messen – und es kamen eine aktuelle Größe und 56 cm, ein Gewicht von 4.100 – 4.200 g heraus. Puh! Ein ganz schöner Brocken! Wenigstens der Kopfumfang war mit 33 – 34 cm normal, so dass ich mir sagte, dass es auf ein paar Zentimeter mehr an den Beinen ja nicht ankäme und dass sich das Gewicht ja auf die Körperlänge verteilen würde…
Am errechneten Termin passierte nichts. Mehrere Abende nacheinander hatte ich schon jeweils eine oder zwei Wehen gehabt und immer aufgeregt gedacht „Geht es wohl jetzt los?!“, aber in der Woche des Termins passierte dann immer weniger.
Am Freitag, dem 23. März hatte ich einen Vorsorgetermin bei Marit im Geburtshaus und gleichzeitig einen Termin zur Akkupunktur bei Jule. Das heißt: Jule setzte die Nadeln, während ich am CTG lag. Das war schon der sechste Akkupunkturtermin! Fast jedes Mal hoffte ich, dass die Gebärmutter diesmal nicht nur zu Senkwehen, sondern zu Geburtswehen animiert würde, aber nie passierte was – abgesehen eben von ein paar Senk- bzw. Übungswehen. Beim jetzigen Termin war es ebenso. Immerhin war der Muttermund schon einen Zentimeter weit geöffnet (ich war ganz stolz, als ich das nachmittags in meinem Mutterpass las) und weich. Und das CTG zeichnete in den 20 Minuten, die ich daran angeschlossen war, vier Wehen auf (von denen ich aber nur eine oder zwei merkte). Allerdings meinte Jule, dass ich in der Woche davor schon mehr nach Geburt ausgesehen hätte als jetzt. Ich sähe einfach zu entspannt aus. Na toll… Ich WAR auch entspannt. Schließlich hatte ich mehrere Tage lang fast nichts anderes getan als in der Sonne zu sitzen… Aber dieses Wochenende hätte mir schon gut gepasst…. Ich erwiderte daher scherzhaft: „Eigentlich hatte ich vor, dieses Wochenende zu entbinden“. Jule meinte aber: „Oh, lass das mal heute lieber. Ich vergesse heute alles und schmeiße alles runter. Ich habe heute morgen bei dem Versuch, EINE Tasse aus dem Schrank zu nehmen, VIER Tassen zerstört!“ Ääääh, okay. Bevor die auch noch das Kind runterfallen lassen würde…Ich schlug also vor: „Okay, dann morgen oder Sonntag.“ „Okay.“ Und bei der Verabschiedung meinte sie noch „Dann bis morgen…“.
Ich glaubte allerdings nicht so richtig daran bzw. ich wusste nicht so recht, was ich glauben sollte. Irgendwie war es mir auch schon fast egal, wann das Kind nun kommt. Immerhin hatte Marit mir die Angst vor einer möglichen Einleitung genommen und mir gesagt, sie sei sicher, dass das Kind bald käme. Und das war alles, was mir wichtig war: Nicht ins Krankenhaus müssen und einfach ganz normal wie geplant im Geburtshaus entbinden können.
Am Freitag hatte ich noch ein paar leichte und schmerzlose Übungswehen, ansonsten passierte nichts weiter.
Den Samstag über waren wir gut beschäftigt mit Schreibkram, Einkaufen usw.. Da draußen wieder wunderschönes Frühlingswetter war, konnte ich Carsten überzeugen, nachmittags noch in der Stadt einen Kaffee trinken zu gehen.
Ich glaube, es war schon nach 21 Uhr, als wir dann endlich gegessen haben. Vielleicht auch später. Nach dem Essen guckte Carsten Fußball und ich saß zeitweise auf dem Sessel und hatte einige leichte Übungswehen. Von denen tat aber keine wirklich weh, daher freute ich mich einfach darüber, dass sie da waren und hoffte, dass der Muttermund vielleicht noch ein bisschen weiter aufgehen würde. Gegen 23 Uhr schlief Carsten auf dem Sofa ein und pennte dort eine Stunde; ich war in der Zeit im Internet. Wir hatten uns aber vorgenommen, auf jeden Fall abends noch die wöchentlichen Bauchfotos zu machen – diesmal von Woche 41 – weil wir ja nicht wussten, wie lange wir noch Gelegenheit dazu haben würden. Wir hatten uns aber vorgenommen, sie für den Fall, dass es losgehen würde, auf jeden Fall dann noch schnell zu machen, bevor die Wehen heftiger würden und wir uns bereit machen würden, um ins Geburtshaus zu fahren. Haha, wenn wir gewusst hätten, wie meine Wehen sein würden…
Naja, aber es war ja auch noch gar nicht losgegangen, daher machten wir jetzt tatsächlich um nach 24 Uhr noch die Fotos. Ich war irgendwie gar nicht müde und witzelte und tanzte sogar noch herum.
Im Bett haben wir beide noch gelesen, bis ich irgendwann mit Erschrecken feststellte, dass die Uhr plötzlich schon kurz nach drei anzeigte! Wir hatten nämlich ganz vergessen, dass in dieser Nacht die Uhr umgestellt wurde und dass es statt zwei plötzlich drei war. Mann, waren wir blöd! Ich hatte doch am Sonntag um 11 Uhr einen Vorsorgetermin bei Jule im Geburtshaus und musste deshalb um 9.30 Uhr aufstehen! Dann hatten wir ja jetzt nur noch gut sechs Stunden zu schlafen! Wie dämlich! Also schnell Licht ausmachen!
Das Licht war gerade aus, da spürte ich um 3.15 Uhr eine Wehe. Puh! Die tat schon ein bisschen weh. Kurz darauf hatte ich einen stechenden Schmerz im Bauch (ich weiß gar nicht mehr so genau, ob das während einer Wehe war oder außerhalb davon; ich glaube, während einer Wehe). Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass in meinem Bauch eine Seifenblase zerplatzt. Oh! Ob das wohl die Fruchtblase war? Ich teilte Carsten natürlich sofort mit, was passiert war. Der meinte, wenn sie geplatzt wäre, würde ich das sicher merken. Ich merkte nichts – also es lief nichts. Trotzdem ging ich vorsorglich ins Bad, um zu sehen, ob Fruchtwasser rauskäme. Ich hatte zwar schon seit Ewigkeiten zur Sicherheit Einwegwickelunterlagen im Bett liegen, aber ich wollte für den Fall des Falles nicht alles unter Wasser setzen. Auf der Toilette kam zunächst nur Pipi, und direkt danach hatte ich das Gefühl, das ein klitzekleines bisschen weiterlaufen würde, obwohl ich nicht „presste“, also nicht willentlich Urin herausließ. Aber wirklich nur so minimal wenig, dass ich eher dachte, dass es wohl kein Fruchtwasser wäre. Ich bewegte mein Becken noch mal in alle Richtungen, um ein bisschen nachzuhelfen, aber nichts passierte. Naja, zumindest war die Blase wohl nicht so gerissen, dass jetzt alles schwallartig rauskommen würde. Also wieder zurück ins Bett. Vorsichtshalber legte ich mir ein Handtuch neben das Bett, damit ich mir das gegebenenfalls schnell zwischen die Beine klemmen könnte.
Kaum lag ich, kam die nächste Wehe. Und die tat schon echt weh. Und merkwürdigerweise konnte ich dabei irgendwie auf keinen Fall im Bett liegen. Ich wälzte mich also so schnell es ging mit meinem riesigen Bauch aus dem Bett (das war gar nicht so einfach; ich konnte echt nur mit Mühe aufstehen) und stellte mich ans Fenster, wo ich mich ordnungsgemäß an das im Geburtsvorbereitungskurs Erlernte hielt und die Wehe „veratmete“, indem ich durch die Nase einatmete („als ob Ihr an einer duftenden Blume riechen würdet“) und durch den Mund ausatmete („als ob Ihr eine Kerze auspusten würdet“). Und nach der Wehe wieder zurück ins Bett.
Zu diesem Zeitpunkt war ich mir noch nicht so sicher, ob es jetzt tatsächlich losgehen würde, denn schließlich hatte ich an den Abenden zuvor auch schon öfter mal einzelne Wehen gehabt, und jedes Mal war ich irgendwann eingeschlafen und Stunden später aufgewacht, nur um festzustellen, dass die Wehen ja wohl offenbar aufgehört hatten. Also nahm ich mir vor, möglichst schnell einzuschlafen, zumal es ja superspät und ich auch total müde war. Und selbst wenn es jetzt losgehen würde, wollte ich zwischen den Wehen schlafen. Ich hatte nämlich gelesen, dass man dann, wenn es nachts losgeht, möglichst lange im Bett liegenbleiben und Kraft schöpfen soll. Und da dachte ich mir, es wäre ja sicher das Beste, zwischen den Wehen möglichst zu schlafen (ich hatte auch teilweise in Geburtsberichten davon gelesen, dass Leute – allerdings eher gegen Ende, wenn sie total erschöpft waren, zwischen den Wehen geschlafen haben. Aber warum sollte das nicht auch zu Anfang gehen?). Oh Gott, was war ich naiv!
Wie man sich denken kann, wurde aus dem Schlafen nichts, denn schon ein paar Minuten später hatte ich wieder einen echt heftigen, stechenden Schmerz im Unterleib und musste mich so schnell es ging aus dem Bett rollen. Und dabei natürlich immer darauf achten, sich auch schön über die Seite herauszurollen, damit die geraden Bauchmuskeln nicht in Mitleidenschaft gezogen werden – Mann, an was für Sachen man selbst in solchen Situationen noch denkt! Ich stellte mich wieder mit dem Gesicht zum Fenster, stützte mich an der Fensterbank ab und atmete laut. Carsten: „Das waren jetzt sieben Minuten.“ Ich atmete weiter. Diese Wehen waren ganz anders, als ich es im Internet gelesen und als ich es aufgrund der Vorwehen erwartet hatte. Ich wusste wohl, dass sich Wehen bei jeder Frau anders anfühlen, aber ich hatte damit gerechnet, dass sie langsam heranrollen und dass man merkt, wie sich die Muskeln immer mehr anspannen und dann irgendwann wieder lockerer werden. Das hier war leider anders: Es war einfach ein fieser Schmerz im ganzen Unterleib, der einfach da war. Nichts mit Muskeln anspannen oder in Wellen heranrollen und so weiter. Es tat schlicht und einfach höllisch weh.
Auch nach dieser Wehe schleppte ich mich wieder ins Bett und hoffte, jetzt länger liegenbleiben zu können. Mann, ich wollte doch einfach nur schlafen.
Kurze Zeit später das gleiche Spiel. Diesmal stand ich am Fenster und atmete laut durch den Mund ein und aus. Carstens vorsichtigen Ratschlag: „Meinst du nicht, es wäre sinnvoller, wenn du die Wehe veratmen würdest, so durch die Nase ein- und durch den Mund ausatmen?“ fand ich absolut überflüssig – schließlich wusste ich das selber. Aber da ich wusste, da er mir nur helfen wollte und da ich sowieso gerade keine Energie für Diskussionen hatte, „veratmete“ ich die Wehe halt. Dabei muss ich echt sagen, dass „veratmen“ ein totaler Euphemismus ist. Es suggeriert, dass die Wehe durch das richtige Atmen irgendwie weggehen würde. Tut sie aber nicht. Der Schmerz bleibt genau der gleiche. Es hilft zwar bestimmt dabei, genug Sauerstoff in den Körper zu bekommen, aber gegen die Schmerzen hilft es überhaupt nicht. Und auch bei dieser Wehe merkte ich ehrlich gesagt überhaupt keinen Unterschied zwischen der Atmung nur durch den Mund und der Atmung durch Nase und Mund.
Nach der Wehe wieder ins Bett und hoffen, dass es nicht sofort wieder weitergeht. Ich wollte doch schlafen! Carsten informierte mich: „Das waren jetzt sechs Minuten.“
Ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn mit meinem ständigen Aus-dem-Bett-springen und meiner Atmerei auch noch wachhielt – es reichte ja eigentlich, wenn einer von uns beiden nicht schlafen konnte, und ich wusste ja auch nicht, wie lange sich das Ganze noch hinziehen würde. Also sagte ich: „Tut mir echt leid, dass ich dich so wachhalte. Wenn du willst, kannst du aber ruhig oben schlafen.“ Aber das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Er fand es wohl ziemlich abwegig, sich oben schlafen zu legen, während ich unten mit den Wehen zu kämpfen hatte. Das fand ich echt lieb. Und im Nachhinein hätte er wohl auch oben schon kurze Zeit später kein Auge mehr zu tun können, so laut wie es noch wurde…
Dann: „Oh nein, schon wieder eine!“ Und raus aus dem Bett. Carsten klang sowohl ungläubig als auch leicht beunruhigt: „Das waren jetzt aber nur vier Minuten!“ „Ja, da kann ich doch nichts für. Ruhe jetzt!“Ich konnte es nämlich absolut überhaupt nicht haben, dabei auch noch zuhören, geschweige denn antworten zu müssen.
Diese und vielleicht auch noch eine oder zwei weitere Wehen „vertönte“ ich, so wie wir es ebenfalls im Kurs gelernt hatten. Also ausatmen auf a, o oder u. Das half zwar auch nicht gegen den Schmerz, aber ich musste einfach irgendwie rumstöhnen. Macht man ja auch bei anderen schlimmen Schmerzen automatisch.
Vom Fenster wechselte ich zur Wand, lief sogar während der Wehe ein paar Schritte herum, stellte mich wieder an die Wand – ich wusste einfach nicht, wohin mit mir. Auch das war anders als in den Büchern und im Internet beschrieben. Ich brauchte überhaupt nichts, um mich während der Wehe festzuhalten; ich konnte eigentlich nur aufrecht stehen.
Zwischendurch ging ich immer wieder ins Bad, weil ich während der Wehen ständig das Gefühl hatte, sowohl Pipi als auch was anderes zu müssen. Es kam aber nichts. Auch das war komisch, denn das wird in den Büchern und im Internet immer nur für den Beginn der Presswehen beschrieben – also dass man denkt, man muss dringend auf die Toilette und ein größeres Geschäft erledigen, in Wirklichkeit ist es aber das Kind, das jetzt kommt. Tja, soweit konnte es bei mir ja noch nicht sein. Trotzdem machte mich dieser ständige Toilettendrang, der sich nicht befriedigen ließ, echt wahnsinnig.
Und diese schrecklichen Schmerzen! Schon nach kurzer Zeit kamen die Wehen im Zweiminutentakt und ich musste einfach nur noch laut schreien. Nichts mehr mit „Oh“ oder „Uh“, einfach nur ein langes, seeeeehr lautes „Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!“, nur teilweise unterbrochen von „Auuuuuuaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhhhh! Das tut so weeeehh! Verdammt! Aaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhh!“ Und das alles in ECHT laut. Ich kam mir echt ein bisschen bescheuert dabei vor und mir tat sogar die total blöde Nachbarin ein bisschen leid. Eigentlich war es ein echtes Wunder, dass die nicht die Polizei gerufen hat, denn ich hörte mich echt an wie jemand, der gerade abgestochen wird. Und so ähnlich fühlte ich mich auch. Das waren solche Schmerzen! Das war echt unzumutbar! Von wegen „der Körper produziert nur solche Wehen, die er auch aushalten kann“! Diese hier fand ich echt NICHT auszuhalten! Das war so schlimm!
Einige Zeit vor der Geburt hatte ich außerdem gelesen – und für sehr wichtig befunden – dass Wehen nicht sind wie andere Schmerzen, die ja ein Signal des Körpers darstellen, dass etwas kaputt ist, sondern dass Wehen vielmehr eine Art produktiver Schmerz sind, die bewirken, dass das Baby kommt. Ich hatte mir zwar eigentlich gedacht, dass ich das auch während der Wehen wissen würde, trotzdem hatte ich Carsten aufgetragen, mir das gegebenfalls zu sagen. Als er genau das tat, half es mir aber leider überhaupt nicht weiter. Es tat sooooo weh! Ehrlich gesagt war mir in dem Moment sogar vollkommen egal, ob ich nun bald ein Baby bekam oder nicht –es sollte einfach nur der Schmerz aufhören!!! Dass ich tatsächlich in absehbarer Zeit ein Baby in den Armen halten würde, war mir auch irgendwie überhaupt nicht mehr präsent, irgendwie geriet das durch diese fiesen Monsterwehen völlig aus meinem Blickfeld. Ich fühlte wirklich nur noch Schmerz.
Irgendwann meinte ich, wir müssten bald mal Jule anrufen, weil es echt nicht mehr auszuhalten war. Ich wusste zwar, dass man erst anrufen soll, wenn die Wehen über einen Zeitraum von zwei Stunden alle zwei Minuten kommen und mindestens eine Minute lang anhalten. Und ich hatte gerade nach dem, was ich sonst so in Geburtsberichten gelesen hatte, auch ein bisschen Angst, einen Fehlalarm zu produzieren. Aber diese Schmerzen waren so heftig; da MUSSTE Jule mir einfach helfen! Das konnte ich echt nicht noch viel länger aushalten!
Carsten war allerdings skeptisch und wollte auf jeden Fall noch die zwei Stunden abwarten. Also ließ ich mich darauf ein, noch ein bisschen zu warten, riet ihm aber nach einer Wehe, die ich mal wieder im Badezimmer verbracht hatte, jetzt langsam mal seine Sachen zu packen. Wir hatten nämlich unsere Geburtstasche noch gar nicht zu Ende gepackt, weil man ja manche Sachen – wie die Kulturtasche – täglich in Betrieb hat und wir außerdem dachten, dass man die ja noch locker zwischen den Wehen packen kann, wenn es losgeht… Klar, da war ich aber noch davon ausgegangen, dass man erst mal über ein paar Stunden Wehen im Abstand von zehn, acht, sieben, fünf Minuten hat… Carsten war auch da noch skeptisch: „Meinst du wirklich?“ Mann, hörte der denn nicht, wie ich schrie??? Dann hatte er noch den – eigentlich auch gutgemeinten – Vorschlag, ich solle mich doch mal zu Testzwecken unter die Dusche stellen, um zu sehen, ob die Wehen tatsächlich echte Geburtswehen waren und auch blieben. Ich wusste wohl, dass man das eigentlich sollte, fand allein die Vorstellung, mich mit diesen alle zwei Minuten auftretenden Mörderschmerzen schreienderweise zehn oder zwanzig Minuten unter die heiße Dusche zu stellen, so absolut abwegig, dass ich mich schlichtweg weigerte und stattdessen zwischen jeweils zweimal Löwengebrüll (ich hatte schon teilweise echte Schmerzen im Hals) anfing, meine Tasche zu Ende zu packen. Das ging zum Glück echt schnell und letztlich war es mir auch vollkommen egal, ob wir alles dabei hätten oder nicht. Ich wollte einfach nur diese Schmerzen loswerden. Carsten fing dann auch an zu packen und ging zum Schluss noch die Geburtshausliste bzgl. der Babysachen und meiner Sachen mit mir durch. Also „Hast du dies eingepackt? Hast du das eingepackt?“ Mann, als ob ich mich noch hätte unterhalten wollen?! „Ich hab alles! Kümmer du dich einfach nur um deine eigenen Sachen!!!“
Grundsätzlich tat es mir aber ein bisschen leid, dass ich so gar nicht mehr kommunizieren wollte, denn für ihn war das sicher auch eine schwierige Situation. Ich hatte – wieder mal fälschlicherweise – im Vorfeld auch gedacht, dass ich bestimmt ganz viel Zuwendung will, jemanden, der meine Hand hält und mir gut zuredet und mich massiert. Ich hatte sogar extra einen Massageball eingepackt. Stattdessen wollte ich am liebsten einfach nur für mich sein, nicht angesprochen werden und ich brüllte wie am Spieß. Ich hatte sogar tatsächlich das Bedürfnis, mich im Badezimmer mehr oder weniger zu verstecken. Und das Licht musste die ganze Zeit aus sein. Ich fand es schon schlimm genug, so laut zu schreien; ich wollte nicht auch noch dabei angeguckt werden.
Es stimmt übrigens ebenfalls nicht – zumindest bei mir nicht – dass man während der Wehen alles um sich herum vergisst und wie in Trance ist und jeden Gedanken komplett abschaltet und dass einem dann alles egal ist. Das hätte ich bei mir selbst aber auch auf keinen Fall erwartet. Ich konnte während der Wehen zum Beispiel noch sehr gut denken „Oh mein Gott, ich schreie wie ein abgestochenes Schwein!“ und es war mir auch ganz und gar nicht egal. Aber es ging einfach kaum anders. Und während der Pausen konnte ich erst recht ganz normal denken. Und da war mir das alles auch nicht egal. Ich wollte einfach nur, dass es aufhört. Ich wollte, dass dieser Schmerz aufhört und ich wollte, dass dieser Toilettendrang aufhört und dass dieser Druck nach unten aufhört, und wenn es schon nicht aufhören konnte, dann wollte ich wenigstens mal eine längere Pause. Und es machte mich irgendwie auch verrückt, dass ich so gar nicht produktiv „mitarbeiten“ konnte. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass ich meinen Körper machen lassen könnte, ich wusste auch nicht, ob ich jetzt vielleicht zu sehr verkrampfte oder was auch immer. Dazu fehlte mir auch einfach ein wellenartiges Zusammenziehen der Gebärmutter – ich hatte ja nur diesen fiesen stechenden Schmerz, der einfach da war und mit dem ich nichts anfangen konnte. Das einzige, was ich tat war, die Beine anzuspannen und eher zusammenzukneifen – wohl wissend, dass das wahrscheinlich total kontraproduktiv war, weil sich der Muttermund ja gerade öffnen und nicht geschlossen bleiben sollte. Aber ich konnte nicht anders; es war sonst nicht auszuhalten. Es war so eigentlich schon nicht auszuhalten.
Irgendwann sagte ich Carsten, er solle Jule jetzt anrufen. Auch da zögerte er noch, weil die zwei Stunden noch nicht rum waren; aber das war mir egal. Ich wollte sie zwar auch ungern mitten in der Nacht wecken, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus. Außerdem bestand ja die Möglichkeit, dass sie sagen würde, es wäre noch nicht so weit und wir sollten uns später noch mal melden, aber selbst für den Fall hielt ich es für ganz sinnvoll, dass sie zumindest darauf vorbereitet wäre, dass es bei mir zu Sache ginge. Beim Risikoaufklärungsabend hatten sie uns gesagt: „Zweimal ruft immer die Frau selbst an und dann sagen wir meistens: Nein, es ist noch nicht so weit, du hörst dich noch zu entspannt an. Wenn dann beim dritten Mal der Mann anruft, dann wissen wir: Jetzt ist es ernst.“
Für solche Spielchen hatte ich jetzt aber echt keine Nerven. Mir war es JETZT ernst und ich wollte auf keinen Fall erst zweimal selbst bei Jule anrufen; ich wollte, dass Carsten jetzt sofort da anruft. Das tat er dann auch; da war es 5.25 Uhr. Mitten im Telefonat hatte ich eine Wehe (kein Wunder; die kamen ja auch mindestens alle zwei Minuten) und schrie mal wieder wie am Spieß. „Aaaaaaaaaaaaahhhhhh! Aaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhh! Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhh!!!!!“ Wie Carsten mir hinterher erzählte, hörte Jule das und fragte daraufhin: „Ist das Kathrin?!“ „Ja.“ „Okay, ich komme sofort. Ich bin in einer halben Stunde da.“ Als ich das hörte, war ich echt erleichtert.
Trotzdem waren die Wehen natürlich weiterhin genauso schlimm. Innerlich verfluchte ich mich, dass ich mich für eine Geburt im Geburtshaus entschieden hatte – ich wollte jetzt sofort eine PDA. Aber genauso wusste ich, dass ich mich aus guten Gründen dafür entschieden hatte und deshalb jetzt da durch musste. Auch wenn mir die guten Gründe in dem Moment sowohl entfallen als auch scheißegal waren.
Ich überlegte auch, ob die Akkupunktur wohl vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war; zumindest waren die sechs Termine eventuell zwei oder drei zu viel gewesen. Die Akkupunktur sollte ja dafür sorgen, dass es schneller geht, aber diese Abstände waren mir definitiv zu kurz. Manchmal kamen sogar zwei Wehen direkt nacheinander. Sobald eine aufgehört hatte, kam auch schon die nächste. Dann hoffte ich immer, dass danach Ruhe wäre, aber das war irgendwie nicht der Fall.
Ich hatte auch einen Geburtsbericht im Kopf, in dem die Gebärende geschrieben hatte, die Wehen wären immer nur zu Beginn jeder Wehe so schlimm gewesen und dann leichter geworden. Leider war auch das bei mir nicht der Fall.
Nach etwa einer halben Stunde kam Jule ins dunkle Obergeschoss – ich wollte ja kein Licht – und guckte erst mal, wo ich wäre. Ich sagte (und kam mir gleichzeitig total dämlich dabei vor): „Ich bin hier; ich musste mich sozusagen im Badezimmer verstecken…“. Wir gingen ins Schlafzimmer und Jule kündigte an, mich außerhalb einer Wehe untersuchen zu wollen. Zunächst kam aber eine weitere, die Jule netterweise mit mir mittönte. Ehrlich gesagt brachte mir das nicht wirklich viel, weil ich ja eigentlich einfach nur schreien wollte, aber weil ich wusste, dass es lieb gemeint war, tönte ich kurz so wie sie, schrie dann aber wesentlich lauter weiter. Grundsätzlich hatte Jule aber eine sehr beruhigende Wirkung auf mich – es war echt gut, dass sie da war.
Die Untersuchung ergab – Gott sei Dank! –, dass der Muttermund schon mindestens fünf Zentimeter geöffnet war. Was für eine Erleichterung! Die Schmerzen waren also nicht umsonst gewesen, es war kein falscher Alarm und es würde voraussichtlich nicht noch 36 Stunden so weitergehen. Puh. Ein Glück. Ich glaube, Carsten war ganz überrascht darüber, weil wir die zwei Stunden ja noch gar nicht abgewartet hatten 😉
Also ab ins Geburtshaus. Jule fuhr vor, um alles vorzubereiten; wir sollten nachkommen.
Während ich mich in eine Hose und Stiefel (die waren am einfachsten anzuziehen) quälte, war mir absolut unklar, wie ich mit DIESEN Wehen bis ins Geburtshaus kommen sollte! Ich konnte nach wie vor während der Wehen ausschließlich aufrecht stehen und laut schreien. Das Geburtshaus ist zwar mit dem Auto nur ca. fünf Minuten entfernt, aber ich musste ja auch noch zum Auto kommen und aus dem Auto ins Geburtshaus, und bei Zweiminutenabständen konnte ich mir ja ausrechnen, dass ich wohl nicht ohne Wehen dort ankommen würde. Das war alles so schlimm! Im Vor- oder sogar jetzt im Nachhinein denkt man „Na, dann reißt man sich eben man fünf Minuten zusammen. Das wird man schon überleben.“ Aber wenn man mittendrin ist und die schlimmsten Schmerzen hat, die man je hatte und von denen man sich vorher nicht mal vorstellen konnte, dass es solche Schmerzen überhaupt gibt, dann will man ALLES tun, um diese Schmerzen zu vermieden und man will NICHTS, was diese Schmerzen noch verstärkt. Und Sitzen hätte ich einfach nicht gekonnt. Mein Körper weigerte sich schlicht und einfach, zu sitzen. Ich konnte mich NUR und ausschließlich gerade halten.
Carsten fuhr das Auto direkt vor die Tür; wie er mir später erzählte, hörte er mich noch auf der Straße schreien, obwohl ich mich im nach hinten gelegenen Schlafzimmer im ersten Stock befand. In einer Wehenpause rannte ich die Treppe herunter und in Richtung Auto. Da schloss Carsten, der alte Sicherheitsfanatiker, doch tatsächlich noch die Haustür zu. War der denn bescheuert?! Wusste der nicht, dass es auf jede Sekunde, die ich nicht im Auto verbringen musste, ankam? Die Tür konnte er doch einfach zuziehen; wir wollten doch nicht wochenlang wegbleiben! „Du brauchst nicht abzuschließen!!!“ rief ich gepresst. Dann stieg ich ins Auto. Allerdings nicht auf die herkömmliche Art. Mir war von Anfang klar, dass ich auf gar keinen Fall würde sitzen können. Also kniete ich mich mit dem Gesicht in Richtung Rückbank auf den Beifahrersitz und hielt mich an der Kopfstütze fest. „Fahr los!“ schrie ich. Carsten fuhr langsam an. Leider war die Windschutzscheibe total beschlagen, so dass er kaum sehen konnte, wo er hinfuhr. Mann, das sollte schneller gehen! „Im Dings da an der Seite ist so ein Dings, ach, Du weißt schon! Da drin ist das! Da an der Seite bei Dir! Zum Wischen! …Aaaaaaaaaaaaaahhhh“, Mensch, mir fielen vor lauter Schmerzen und vor lauter Ungeduld, dass wir endlich wegkämen, weder die Wörter für „Fach an der Fahrertür“, noch für „Geschirrtuch“ ein… Egal, glücklicherweise kapierte Carsten auch so, was ich meinte. Gleichzeitig fiel mir wieder ein, dass ich gelesen hatte, dass man während der Wehen jedes Schlagloch überdeutlich spürt und fast verrückt wird davon. Das musste natürlich nicht auch noch zusätzlich sein! Also bat ich: „Aber bitte ganz vorsichtig fahren! Aber auch nicht so langsam!“ – „Ja, ich weiß“, entgegnete Carsten. Noch beim Losfahren hatte ich den Eindruck, dass Carsten einen klitzekleinen Versuch wagen wollte, mir zu sagen, dass das echt gefährlich wäre, so rückwärts auf dem Sitz zu knien. Aber noch während er dazu ansetzte, rief ich schon so gequält „Nein! Ich kann auf keinen Fall sitzen! Ich halte mich auch fest!“, dass er seinen Hinweis direkt wieder runterschluckte. Kaum waren wir losgefahren, schlug die nächste Wehe auch schon so richtig zu. Nun hielt mich auch kniend nichts mehr auf dem Sitz. Die restliche Fahrt stand ich – überwiegend brüllend – nach vorne gebeugt im Auto (gerade ging ja leider nicht) und hielt mich an der Kopfstütze fest. Mir war sehr wohl bewusst, wie skurril diese Situation war, aber es ging nicht anders. Glücklicherweise war es sehr früher Sonntagmorgen und außer uns war niemand unterwegs. Umso fassungsloser war ich dann auch, als Carsten doch tatsächlich an einer roten Ampel hielt. Okay, die Ampel steht direkt vor dem Polizeipräsidium, aber das war mir in dem Moment echt sowas von egal! Da guckt doch keiner ständig aus dem Fenster, um zu überprüfen, ob einer bei Rot drüberfährt! „Fahr weiter! Ist doch egal!“ schrie ich daher in einer Mischung aus Verzweiflung, Wut und Fassungslosigkeit. Noch fassungsloser wurde ich, als Carsten sich doch schlichtweg weigerte! „Nein, wir warten jetzt. Ich hab kein Bock, dass uns hier irgendein schlechtgelaunter Bulle anhält und wir dann ne Viertelstunde mit dem rumdiskutieren müssen. Nachher glauben die uns das dann nicht und dann dauert das ewig.“ – „Ich zeig denen dann schon, dass das echt ist!“ Aber es half nichts; er fuhr erst weiter, als die Ampel wieder grün war. Mann, war ich sauer!!! Der verstand offenbar echt nicht, wie weh das tat. Vorsichtshalber wies ich ihn an, in der direkt folgenden 30-Zone NICHT 30 zu fahren. Ob er es tat, weiß ich nicht. Nach insgesamt zwei Mörderwehen kamen wir vor dem Geburtshaus an. Hier wollte Carsten mir was Gutes tun, was für mich aber leider gerade völlig falsch war: Das Geburtshaus liegt, wenn man von der Werther Straße kommt, auf der linken Straßenseite; die Beifahrerseite ist aber ja logischerweise auf der rechten Autoseite. Also wendete Carsten den Wagen, damit ich es nicht so weit zu laufen hätte. Faaaaalsch! „Halt an! Ich steige aus!!!“ Aber er wendete. Dabei kam es doch auf jede Sekunde der Wehenpause an! Ich wollte nur ENDLICH aus diesem Auto und aus meiner elendigen gebückten Position raus und endlich im Geburtshaus ankommen! Und ich wollte auf keinen Fall mitten auf der Straße, vor der Haustür oder im Hausflur stehen und wie am Spieß brüllen müssen. Ich hatte ja auch gar kein Problem damit, mich in den Wehenpausen zu bewegen, daher wollte ich einfach nur ganz schnell rausspringen und schnell zum Eingang rennen und klingeln. Tja, durch die Wenderei klappte das dann natürlich nicht mehr: Ich bekam die nächste Wehe schon direkt vor der Haustür. Mit Mühe und Not schaffte ich es, nicht ganz so laut zu schreien, aber so richtig erfolgreich war ich darin wohl nicht. Ich berichtete Jule als allererstes – obwohl ich kaum wieder sprechen konnte, dass Carsten an einer roten Ampel gehalten hatte – so wütend und gequält war ich immer noch.
Im Nachhinein habe ich übrigens von Jule erfahren, dass ihr Freund, der sie gefahren hatte, sich bei meiner Ankunft schnell in der dunklen Geburtshausküche versteckte und von meiner Schreierei völlig geschockt war. Er war der festen Meinung, ich würde sterben und mahnte Jule eindringlich: „Du musst der helfen! Die arme Frau! Die stirbt sonst!“ „Nein, die stirbt nicht. Die kriegt bloß ein Kind“, meine Jule wohl daraufhin. Gut, dass ich das nicht mitbekommen habe…
Im Geburtshaus konnte ich die schöne Atmosphäre mit gedämpftem Licht und Kerzen leider gar nicht genießen, weil ich gar keine Pausen dafür hatte. Ich hatte mir das so schön vorgestellt: Ich würde während der Wehen alle möglichen Positionen ausprobieren, mal am Tuch hängend, mal sitzend, mal auf eine Stuhllehne gestützt oder an Carsten gelehnt, dabei würden wir diese schöne CD mit französischen Chansons hören, die wir einmal im Vorbereitungskurs gehört hatten, zwischendurch würde ich in der Wanne liegen, mit Kerzen um mich herum. Die Wehen wären zwar schmerzhaft, aber dank meiner Entspannung noch auszuhalten; zwischendurch in den Pausen würde eine gelassene Stimmung herrschen; wir würden ein paar lustige Erinnerungsfotos machen (die Kamera war mir im Vorfeld das Allerwichtigste auf der Mitzunehmen-Liste), Carsten würde mich ein bisschen massieren und die Hebammen würden uns bei allem nett unterstützen. Und irgendwann hätte ich dann Presswehen, die erleichternd wären, weil ich endlich was tun könnte, und dann würde ich das Baby – so wie gelesen – langsam und sanft herausschieben und dabei meinen Körper und das Baby weitestgehend machen lassen. Auf jeden Fall würde das Ganze ohne Risse vonstattengehen, die Plazenta käme ganz einfach raus und dann wäre alles schön; wir drei würden gemütlich kuscheln, ich würde die Kleine das erste Mal anlegen, das wäre erst etwas schmerzhaft, würde aber funktionieren. Dann würden wir mit den beiden Hebammen in Ruhe frühstücken und einen Sekt trinken und schließlich würden wir drei – die Kleine wie ein rohes Ei behandelnd – glücklich nach Hause fahren.
Die Realität sah anders aus.
Jule hatte zwar in der Tat alles sehr schön und stimmungsvoll hergerichtet; es gab tatsächlich gedämpftes Licht und Kerzen und eine gefüllte Wanne, aber meine Stimmung war leider nicht mal ansatzweise irgendwas, was in Richtung gelassen, heiter und friedlich gegangen wäre. An Musik habe ich nicht eine einzige Sekunde lang gedacht und Fotografieren war leider auch absolut abwegig – ich konnte nicht einmal jemanden in meiner Nähe haben, geschweige denn wäre mir nach Fotos gewesen. Jetzt, im Nachhinein, bedaure ich das ein bisschen. Jetzt hätte ich nämlich schon sehr gerne ein paar Fotos. Aber zu spät.
Im Geburtshaus ging ich zuerst auf die Toilette. Und wusste dort überhaupt nicht, wohin mit mir. Ich hatte nach wie vor das Gefühl, sowohl ein kleines als auch ein großes Geschäft verrichten zu müssen, aber beides ging nicht. Ich hatte solche Schmerzen, dass ich nicht sitzen konnte – dabei hätte ich mich doch so gerne mal ausgeruht. Zwischenzeitlich hatte ich echt den Impuls, mich einfach auf den kalten Fliesenboden zu legen, aber dann hätte ich ja für die nächste Wehe schon wieder aufspringen müssen – mit meinem Riesenbauch. Ich hatte einen wahnsinnigen Druck nach unten und außen und wusste, dass das das Kind war, aber ich wusste auch, dass das jetzt noch gar nicht rauskommen konnte und durfte, weil es mich sonst zerreißen würde. Das einzige, was ich während der Wehen tun konnte – außer so laut zu schreien, dass es mir echt peinlich gegenüber den übrigen Hausbewohnern war – war, die Beine ganz fest anzuspannen und dadurch zusammenzuhalten und die Pobacken mit der Hand zusammenzudrücken. Ich kam mir echt bescheuert dabei vor. Und das Geschrei war mir hier noch unangenehmer, weil das im Bad durch die Fliesen so hallte. Irgendwann beschloss ich, dass ich zwar immer noch auf die Toilette musste, es aber nichts brachte, hier weiter darauf zu warten. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich ja auch ohnehin irgendwann mal wieder rauskommen müsste.
Jule meinte, ich sollte es nun mal mit der Wanne versuchen, dann würden die Wehen gerichteter oder kontrollierter oder so. Und was soll ich sagen: Das warme Wasser war echt das Angenehmste in dieser ganzen Horrornacht. Endlich hatte ich mal ein paar Minuten länger Pause zwischen den Wehen! Zwar nicht sehr lange, aber wenigstens ein paarmal durchatmen konnte ich jetzt. Und zwischen den Wehen war es auch wirklich angenehm, im warmen Wasser zu entspannen. Kurz nachdem ich in der Wanne war, traf auch Marit, die zweite Hebamme, ein, und untersuchte mich direkt. Das Ergebnis: sieben bis acht Zentimeter. Das hörte sich einerseits gut an, aber andererseits hatte ich mittlerweile auch echt ganz schön Angst, dieses Riiiiiiieeeesenbaby – denn so fühlte es sich in meinem Unterleib gerade an – aus mir herauszubekommen. Vorerst durfte ich aber in der Wanne bleiben. Und obwohl es ja alle nur nett mit mir meinten, schickte ich alle so freundlich wie möglich weg. Ich wollte zwar, dass für den Fall der Fälle alle in meiner Nähe wären, aber es war mir schon so peinlich, dass ich bei den Wehen so laut schreien musste, dass ich nicht wollte, dass sie mich dabei auch noch anguckten. Das tat mir vor allem für Carsten ziemlich leid; ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich ihm unrecht tat, dadurch, dass ich ihn irgendwie ausschloss. Aber ich konnte echt niemanden um mich haben. Seltsam – sonst kann ich nur schwer alleine sein und habe immer sehr gerne bestimmte, vertraute Personen um mich. Aber in dieser Situation merkwürdigerweise nicht.
Zwischen den Wehen bekam ich mit, dass die anderen sich im Geburtsraum – zwischen dem Raum mit der Wanne und dem Geburtsraum ist keine Tür – leise unterhielten. Und zwar unter anderem auch über mich – was ja der Situation entsprechend naheliegend war. Das machte mich ganz verrückt. Ich wollte nicht mit anhören müssen, wie sich jemand über mich unterhält, also rief ich: „Ich kann euch hören!“, und da mussten sie etwas lachen. Aber immerhin sprachen sie dann leiser über mich ? .
Die Wehen waren in der Wanne zwar nicht mehr ganz so horrormäßig wie draußen, aber leider immer noch kaum erträglich, und zwischen dem lauten Schreien jammerte ich laut: „Das soll aufhören!“ „Ich will nicht mehr!“ und „Ich will endlich mal ne Pause“. Dabei drückte ich mich mit dem Bauch nach oben ins Hohlkreuz und wand mich von links nach rechts. Nichts half. Und ich hatte schlimme Schmerzen im unteren Rücken, aber auch ein Handtuch im Kreuz half nicht, weil es sich unter Wasser entfaltete und nicht an Ort und Stelle zu halten war. Irgendwann fand ich die ganzen Schmerzen so unerträglich, dass ich sogar einen Kaiserschnitt – zuvor immer meine absolute Horrorvorstellung – fast verlockend fand. Und obwohl ich wusste, dass ich es wahrscheinlich dann doch nicht machen würde, erklärte ich laut, dass ich beim nächsten Kind AUF JEDEN FALL einen geplanten Kaiserschnitt machen lassen würde. Daraufhin meinte Marit: „Ach, Du willst also noch ein zweites Kind?!“ „Ähh, nein, ehrlich gesagt dann doch nicht. Ich will gar kein zweites Kind, hast recht!“
Nach einiger Zeit merkte ich, dass die Wehen schon sowas wie Presswehen wurden. Also, ich musste noch nicht richtig pressen, aber die Wehen taten irgendwie anders weh. Ich weiß gar nicht mehr ganz genau, was sich daran anders anfühlte, aber ich stöhnte jetzt teilweise mehr, als dass ich schrie. Ich wand mich in der Badewanne und spannte meine gestreckten Beine an, machte mich ganz lang, und hielt dadurch – aber nicht gezielt, sondern eher vom Körper gesteuert – meine Beine so fest wie es ging geschlossen. Ich ahnte zwar, dass das jetzt in Richtung Presswehen ging, aber ich war mit meinem Kopf noch meilenweit davon entfernt, jetzt dieses Kind zu kriegen. Irgendwie schienen diese Wehen sowieso nichts mit dem Baby in meinem Bauch zu tun zu haben und ehrlich gesagt wollte ich im Moment auch überhaupt gar nicht, dass es jetzt rauskäme. Ich wollte nur, dass die Schmerzen aufhörten. Ich wollte aber nicht, dass sie dafür erst noch einmal schlimmer werden.
Ich fand das alles einfach nur schrecklich und hatte die schlechteste Laune der Welt. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es solche Schmerzen überhaupt GIBT.
Nach einer guten Stunde wollte ich eigentlich aus der Wanne raus, weil meine Finger schon ganz schrumpelig wurden und ich gefühlt jetzt eigentlich auch lange genug hier gelegen hatte – zumal es im Rücken auch unangenehm war. Aber dann überlegte ich, was ich denn stattdessen machen würde und konnte mir weder vorstellen zu liegen, noch zu stehen, noch zu sitzen. Alles fand ich allein in der Vorstellung schier unerträglich. Also blieb ich einfach liegen. Das Wasser war auch die ganze Zeit über klar.
Kurze Zeit später meinte Marit, ich solle jetzt mal lieber da rauskommen. Also zog ich meinen Bademantel an und musste Carstens Badelatschen in Größe 48 dazu anziehen (ich habe Größe 39) – ich selbst hatte nämlich überhaupt nicht daran gedacht, Badelatschen mitzunehmen. Stand auch nicht auf der Geburtshausliste – nur Hausschuhe, aber ich dachte, dafür hätte ich doch Socken. War jedenfalls etwas schwierig, in den Riesendingern zu laufen…
Ich glaube, dann sollte ich erst mal auf das Bett; mich auf die Seite legen oder in den Vierfüßlerstand, aber nichts war auch nur in irgendeiner Weise auszuhalten. Es ging schlicht und einfach nicht. Es fühlte sich unerträglich an und ich musste direkt aufspringen und mich während einer Wehe ganz steif machen.
Dann sollte ich noch einmal auf die Toilette gehen, um Platz zu machen.
Nun war ich also wieder auf der kalten Toilette und versuchte wieder, irgendeine Art von Geschäft zu verrichten – und wieder so ziemlich vergeblich. Aber immerhin sah ich nach ein paar Tropfen Pipi etwas auf dem Toilettenpapier, das aussah wie ein Streifen dünne Haut. Ich nahm an, dass es ein Teil der Eihaut war und dass die Fruchtblase tatsächlich vorher geplatzt war. Die ganze Zeit über kamen wieder fiese Wehen, und ich schrie immer noch und war froh, dass es so früh morgens war, dass noch keine Kurse oder Vorsorgetermine oder das Elterncafé im Geburtshaus stattfanden. Ich blieb ziemlich lange dort; eigentlich gefiel es mir dort nicht schlecht – vor allem war ich dort alleine und niemand guckte mich während einer Wehe an. Irgendwann dachte ich mir, wenn ich noch lange hier bleibe, kriege ich mein Kind auf der Toilette – und fand die Vorstellung eigentlich ganz lustig. Streng genommen wollte ich es aber GAR NICHT mehr kriegen. Das war mir alles zu viel und zu schmerzhaft und zu schrecklich. Das waren echt immer noch die schlimmsten Schmerzen, die ich je erlebt hatte – und schlimmere Schmerzen als ich mir überhaupt jemals hätte vorstellen können!
Weil ich nicht wusste, wohin mit mir, und weil es mir auch zu kalt auf der Toilette war – naß und im Bademantel, der bauchbedingt kaum zuging – und weil es mir dort zu sehr hallte, ging ich wieder ins Geburtszimmer, wo die anderen drei mich schon erwarteten. Da war es so ungefähr kurz vor acht. Jule sagte: „Wir müssen jetzt bald mal dein Kind kriegen.“ Ich: „Oh nein, ich will nicht! Das tut alles so weh!“ Jule: „Ja, ich weiß. Aber ich befürchte, da müssen wir jetzt durch!“
Das wusste ich ja auch. Aber ich konnte es mir schlicht und einfach nicht vorstellen. Ich wollte nicht. Ich konnte nicht.
Leider konnte ich dieses „Ich will nicht mehr“ nicht als das typische Indiz werten, dass es bald vorbei ist (so im Kurs gelernt und überall zu lesen und zu hören). Ich wollte nämlich fast von Anfang an schon nicht mehr, weil es fast von Anfang an schon so schweineweh tat und die Wehen so schnell aufeinander folgten.
Sie fragte dann, ob sie mir was Homöopathisches geben dürfe. Klar, immer her damit! Meine einzige Sorge war nur, dass das die Wehen noch mehr beschleunigen würde; aber ich vertraute darauf, dass Jule schon wusste, was sie tat.
Interessanterweise sollte ich mich jetzt schon hinhocken – und das, obwohl sich die Wehen ja seit einiger Zeit gar nicht mehr verändert hatten. Ich dachte, ich könnte mich auf den Gebärhocker hocken; das stellte ich mir einigermaßen bequem vor. Aber ich sollte mich mit dem Rücken zum Bett direkt auf den Boden hocken, Carsten sollte hinter mir auf dem Bett sitzen und ich sollte mich mit meinen Armen auf seinen Oberschenkeln abstützen. So machten wir’s – obwohl es echt nicht bequem und teilweise echt schlecht in den Oberarmen zu halten war. Unter mir war eine Plastikunterlage auf dem Holzboden ausgebreitet und Marit saß rechts, Jule links von mir auf dem Boden.
Und dann sollte ich auch schon pressen. Erst traute ich mich nicht so richtig, und irgendwie kam es mir auch komisch vor, weil sich die Wehen ja gar nicht anders anfühlten, aber wenn Jule meinte, konnte ich es ja mal ausprobieren. Leider war es nicht so wie im meinem einen Buch, dass das Baby sich praktisch fast von allein in Richtung Ausgang schiebt und dass man dann schon von selber merkt, dass man nur noch ein wenig mitschieben muss. Ich glaube, wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich noch stundenlang nicht gepresst oder geschoben.
Jetzt jedenfalls sollte ich während der Wehen nicht mehr schreien, sondern kurz tief Luft holen und dann „schieben, schieben, schieben, weiter, weiter, weiter, ja, noch mehr, noch mehr, noch mehr – Stop! Ausatmen, noch mal Luft holen und noch mal schieben, schieben, schieben…“ und das Ganze meistens dreimal während jeder Wehe. Jule zeigte mir mit der Hand, wohin ich schieben sollte und das half auch ganz gut.
Die Presswehen als solche taten weniger weh als die Eröffnungswehen davor – das war gut. Vor allem rechnete ich auch jeden Moment damit, dass weitere Besucherinnen ins Geburtshaus kommen würden, daher war ich sehr froh, jetzt nicht mehr so laut zu schreien. Dabei war mir völlig entfallen, dass ja Sonntag war, so dass ohnehin keine Kurse und Vorsorgetermine stattfinden würden… Naja, hätte ich mir also gar keine Sorgen zu machen brauchen.
Dass die Presswehen selbst weniger weh taten, hieß jedoch leider nicht, dass die Schmerzen insgesamt weniger geworden wären. Der Kopf, der sich nach unten schob, fühlte sich so unglaublich riesig an, dass es sich anfühlte, als würde ich in Stücke gerissen. Das waren ein solcher Druck und solche Schmerzen in mir drin! Kaum auszuhalten. Und dieser Druck ließ auch während der Wehenpausen nicht mehr nach. Zwischendurch habe ich nur noch gestöhnt und gejammert: „Das tut so weh, das tut so weh!“ Und irgendwie hatte ich auch nicht das Gefühl, dass da etwas vorwärts ging. Von wegen „Drei Presswehen und dann war sie da…“, wie es manche offenbar erleben. Bei mir dauerte die Pressphase fast eine Stunde; von etwa acht Uhr bis 8.53 Uhr.
Nach einiger Zeit regten die beiden Hebammen einen Stellungswechsel an. Ich sollte mich auf die Seite legen; mein oberes Bein wurde von Marit gehalten. Das war aber irgendwie nicht so meine Position. Ich kam mir doof dabei vor, dass Marit mir jetzt so offen da unten reingucken konnte (ich weiß, das ist ihr Job, aber meiner nicht und ich fühlte mich nicht so gut dabei) und außerdem half die Schwerkraft jetzt nicht mehr so gut mit. Der Effekt war, dass der Kopf jetzt wieder ein Stück zurückrutschte. Obwohl das natürlich kontraproduktiv war, fand ich das aber in dem Moment super, weil dadurch der ganz ganz schlimme Monsterdruck ein bisschen gemildert wurde.
Es sollte aber weitergehen, also sollte ich mich wieder vor das Bett hocken. Ich hatte aber solche Schmerzen, dass ich nur gaaanz langsam aus der Seitenlage hochkam, und als ich stand, kam eine Presswehe, die ich heimlich nicht mitpresste, also komplett verschwieg (was beweist, wie viel weniger die Wehen wehtaten – vorher hätte ich nie im Leben eine Wehe verheimlichen können). Ich konnte schlicht und einfach nicht mehr ständig pressen und wollte wenigstens eine kurze Pause.
Zwischendurch hörten die beiden Hebammen immer mal wieder die Herztöne des Babys ab und waren immer zufrieden damit. Einmal waren sie wohl ein bisschen langsam, aber schon beim nächsten Abhören war wieder alles in Ordnung. Wenigstens etwas.
Wieder zurück in der Hocke ging es mit der Presserei weiter. Es war echt anstrengend, mich so dort zu halten; ständig rutschte ich mit meinen Armen von Carstens Beinen runter; und dabei zu pressen war echt kein Vergnügen.
Der Druck war irgendwann echt unerträglich. Ich presste und presste, und ich hatte das Gefühl, dass es einfach gar nicht weitergeht, aber irgendwann meinte Jule, sie könne schon eine dunkelblonde Locke sehen. Ob wir mal gucken oder fühlen wollten. Neeeeiiiiiiin! Ich wollte weder gucken noch fühlen; ich wollte einfach nur, dass es endlich vorbei ist. Carsten wollte auch nicht; ihm war das glaube ich ein bisschen unheimlich.
Die Sonne schien durch’s Fenster und die anderen drei befanden, dass es ein wunderschöner Tag sei, um geboren zu werden. Mir war das alles scheißegal. Meinetwegen hätte es auch stürmen, hageln und gewittern können – das wäre meiner Stimmung auch eher angemessen gewesen. Nichts mit friedvoll und sanft rausschieben… das waren echte Horrorschmerzen. Und ich hatte große Angst zu reißen. Trotzdem schob ich immer weiter fleißig mit. Ich traute mich zwar eigentlich nicht richtig, weil ich eben einen Dammriss oder ähnliches fürchtete, aber ich tat es trotzdem, damit es endlich zu Ende wäre.
Aber selbst als die Locke schon zu sehen war, dauerte es noch ganz schön lange.
Jule warnte mich, dass gleich ein brennender Schmerz kommen könnte; da sollte ich dann aber drüber hinwegschieben. Der brennende Schmerz kam zunächst noch nicht so richtig – zumindest nicht brennender als es sowieso schon die ganze Zeit schmerzte. Ich schob und schob und schob; Jule feuerte mich unentwegt an und ermutigte mich und schützte derweil meinen Damm mit starkem Kaffee – ich hoffte, dass dies meinen Damm retten würde. Eine Wehe sollte ich auch nicht mal mehr mitschieben, sondern nur „papapapa“ machen. Irgendwann hatte ich das Köpfchen fast draußen und nach ein oder zwei weiteren Presswehen und zusätzlichem Schieben, obwohl gar keine Wehe da war, war das Köpfchen ganz draußen. Ich hatte vorher immer gedacht, dass das bestimmt ein komisches Gefühl wäre, wenn der Kopf schon draußen ist und man dann auf die nächste Wehe wartet, damit auch der Körper geboren wird. In diesem Moment war es mir ehrlich gesagt echt egal, ob der Kopf nun draußen war oder nicht; es sollte nur ENDLICH vorbei sein. Vielleicht lag das auch daran, dass ich den Kopf aus meiner Perspektive gar nicht sehen konnte; ich hatte immer gedacht, man sieht den Kopf dann so aus sich rausbaumeln. Das einzige, was ich blöd fand, war, dass ich mich jetzt gar nicht hinsetzen konnte, weil ich mich ja nicht auf das Köpfchen meiner Tochter setzen wollte. Auch jetzt wollten Carsten und ich noch nicht gucken. Uns wurde aber berichtet, dass sie „voll viele dunkelblonde Haare“ habe.
Irgendwie dauerte es – zumindest gefühlt – dann doch noch ganz schön lange, bis endlich der restliche Körper rausgepresst werden konnte. Leider flutschte er nicht einfach hinter dem Köpfchen hinterher. Und als die Schultern rauskamen, gab es dann doch noch einen wirklich fiesen brennenden Schmerz. Im Nachhinein kein Wunder – das Baby hatte nämlich eine Hand angewinkelt und hat mir damit einen Dammriss zweiten Grades verpasst.
Und dann flutschte das ganze Baby in einem großen Schwall Fruchtwasser zwischen meinen Beinen hindurch auf den Boden – sanft geleitet von einer der Hebammen. Es war am ganzen Körper blau, fing aber sofort an zu schreien. Jule und Marit rubbelten es sanft mit einem Handtuch ab und ließen es zuerst noch zwischen sich liegen. In dem Moment konnte ich irgendwie gar nichts fühlen und denken. Ich war weder von sofortiger totaler Liebe überströmt, noch fühlte ich mich wahnsinnig erleichtert. Ich fühlte einfach gar nichts weiter. Trotzdem hatte ich das Gefühl, was sagen zu müssen, und alles, was ich sagen konnte, war „Krass.“ – Total bekloppt eigentlich.
Das einzige, was ich dachte, war, dass ich mich wunderte, warum mir die Kleine gar nicht sofort auf die Brust oder den Bauch gelegt wurde – ich war davon ausgegangen, dass man das so macht. Aber irgendwie machten Jule und Marit diesbezüglich so gar keine Anstalten und ich wollte irgendwie auch nichts sagen. Auch blöd von mir. Aber vielleicht mussten sie sie auch erst noch weiter abrubbeln, damit die Durchblutung besser wurde und das Blaue sich verlor.
Nach mehreren Minuten fragten die beiden, ob einer von uns sie mal halten wollte. Ja, ich wollte! Ich glaube, ich bekam sie direkt im Handtuch angereicht; das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht mehr so genau. Das war ganz ungewohnt und ich wusste auch gar nicht so richtig, wie ich sie halten sollte. Schließlich hatte ich ja so gar keine Erfahrungen mit Säuglingen und offenbar entsteht mit der Geburt nicht auch direkt eine Säugling-halte-Geschicklichkeit… Zumal dieser spezielle Säugling auch gar nicht richtig stillhielt, sondern eher rumzappelte. Jule wollte dann wissen: „Und, wen haben wir da jetzt?“ Und jetzt konnten wir endlich den Namen bekanntgeben. „Lilith Carlotta!“ Auch das ging uns noch ein wenig ungewohnt über die Lippen, aber das ist glaube ich normal, wenn man den Namen monatelang geheim hält.
Zwischendurch prüfte Jule zweimal, ob die Nabelschnur noch pulsierte. Als dies nicht mehr der Fall war, konnte sie durchgeschnitten werden. Jule setzte zwei Klemmen und fragte, wer von uns sie durchschneiden wollte. Carsten hatte schon im Vorfeld gesagt, dass er das komisch fände und es wahrscheinlich nicht tun wollte, es sich aber vorbehalten wollte, sich in dem Moment vielleicht doch umzuentscheiden. Mir war es egal, wer von uns es tat; mir war es nur wichtig, dass es einer von uns beiden tat. Carsten wollte es tatsächlich nicht, also schnitt ich selbst die Nabelschnur durch. Vorher sollten wir uns alle was für Lilith Carlotta wünschen. Ich glaube, in einem solchen Moment wünschen sich alle so ziemlich das gleiche für ein neues kleines Menschenkind, aber man darf das ja nicht verraten, darum schreibe ich jetzt nichts weiter dazu…
Die Nabelschnur sah ganz interessant, aber irgendwie auch seltsam aus. Silbrig und durchsichtig; man konnte die Adern, die das Blut transportiert hatten, sehr gut erkennen. Und in sich gedreht. Komisches Ding. Bezüglich des Durchschneidens hatte man mir vorher gesagt, das sei, als ob man einen Gartenschlauch durchschneidet. So empfand ich es nicht – ein Gartenschlauch ist ja hohl, während die Nabelschnur durchgängig gummiartig ist. Aber sie war wahrscheinlich ähnlich schwer durchzuschneiden. Ich kam auch nicht mit einem einzigen Schnitt durch, sondern musste noch einmal nachsetzen. Ja, und damit war Lilith Carlotta dann zum allerersten Mal komplett von mir getrennt. Aber diesen Gedanken hatte ich in dem Moment nicht. Ich hatte nach wie vor gar keine besonderen Gedanken.
Jule berichtete mir, dass ich leider doch gerissen sei und wohl genäht werden müsse. Der Kopf sei ohne Risse durchgegangen, aber bei der Geburt der Schultern sei ich dann doch gerissen. Angesichts des stechenden Schmerzes, den ich dabei gespürt hatte, wunderte mich das nicht besonders. Sie wollte aber gleich noch mal genauer nachgucken.
Dann durften Carsten und ich uns auf das Bett legen – ich auf eine Unterlage, weil noch einiges an Blut aus mit herauslief. Zum ersten Mal seit einigen Monaten konnte ich so halbwegs auf dem Rücken liegen – vorher wäre mir aufgrund des Vena-Cava-Syndroms binnen kürzester Zeit total schlecht und schwummerig geworden – aber das war mir noch nicht so ganz geheuer. Und entspannt war ich auch nicht, weil ich wusste, dass ich es noch nicht geschafft hatte: Die Plazenta musste ja noch heraus. Ehrlich gesagt konnte ich mir nach den schrecklichen Horrorschmerzen von gerade eben nicht vorstellen, jetzt schon wieder etwas herauszupressen. Ich hatte echt Angst vor etwaigen Nachwehen – die Wehen von eben waren einfach noch zu präsent und ich wollte auf gar keinen Fall und unter keinen Umständen wieder so etwas spüren müssen. Und ich fühlte mich untenrum so malträtiert, dass ich auch auf gar keinen Fall Kraft aufwenden wollte, um etwas Größeres herauszupressen.
Lilith Carlotta wurde derweil gemessen und gewogen. Und zu unser aller Überraschung war sie „nur“ 52 cm groß und wog 3.920 g, hatte dafür aber einen Kopfumfang von 36,5 cm. Frau Dr. Dühlmeyer hatte bei der letzten Untersuchung fünf Tage zuvor 56 cm Länge, zwischen 4.100 und 4.200 g Gewicht und einen Kopfumfang von 33 – 34 cm gemessen.
Dann bekam Lilith Carlotta Vitamin K und danach bekam der frischgebackene Vater sie endlich auf die Brust gelegt. Und hatte prompt Tränen in den Augen. Das fand ich sooooo süß! Und ehrlich gesagt beneide ich Carsten noch heute ein bisschen darum, dass er in diesem Moment die „richtigen“ Emotionen hatte. Ich hätte mich echt gerne auch emotional oder gerührt oder einfach nur glücklich und erleichtert gefühlt.
Jule probierte nun, ob sich die Plazenta schon löste. Ich sollte mal vorsichtig pressen und sie drückte ein wenig auf meinen Bauch. Schon das fand ich echt unangenehm – und zudem war es leider erfolglos. Die Plazenta war noch fest. Naja, dann eben einfach noch ein bisschen liegenbleiben. Ehrlich gesagt war es nicht sooo schön, blutend und mit zwischen den Beinen baumelnder Nabelschnur…
Nach einiger Zeit versuchte Jule es noch einmal. Die Plazenta hatte sich aber immer noch nicht gelöst, daher bekam ich zwei Akkupunkturnadeln in den Bauch gesetzt. Leider half auch das nicht, so dass Jule mit einem Einmalkatheter meine Blase entleerte – um Platz zu schaffen. Ich hatte so etwas noch nie erlebt, wusste aber, dass manche Frauen während der Geburt einen Katheter bekommen. Ich stellte mir das schrecklich entwürdigend vor und wollte deshalb nicht so recht. Aber Jule meinte, es müsste sein, also dann eben doch. Ich fand es auch tatsächlich entwürdigend. Womit ich aber gar nicht gerechnet hätte: Es tat zusätzlich auch noch weh! Wieder eine neue Erfahrung gemacht…
Aber auch dadurch löste sich die Plazenta nicht. Ich machte mir schon ein bisschen Vorwürfe, dass ich vielleicht nicht entspannt genug war und nicht loslassen konnte oder ähnliches, aber ich fühlte mich unten rum so schlecht, dass ich auch wirklich nichts mehr „gebären“ wollte. Trotzdem wollte ich natürlich auf jeden Fall, dass das blöde Ding endlich rauskommt.
Zwischendurch hatte Jule festgestellt, dass ich einen Dammriss zweiten Grades hatte, der in der Klinik würde genäht werden müssen – schöne Scheiße. Ich wollte doch schön im Geburtshaus frühstücken und dann mit Carsten und dem Baby nach Hause gehen – und nicht in die Klinik!
Nachdem sich die blöde Plazenta auch immer noch nichtlöste, bekam ich schließlich einen Oxytozin-Tropf. Danach sollte ich noch ein paarmal pressen, was ich trotz Angst und Schmerzen auch brav tat; Jule drückte noch ein bisschen auf meinen Bauch, aber das Scheißteil blieb einfach fest. Tja. Nun musste ich also ins Krankenhaus. Wenn sich die Plazenta nach einer Stunde nach der Geburt noch nicht gelöst hat, muss man nämlich vom Geburtshaus aus ins Krankenhaus. Da musste ich ja sowieso hin wegen der Dammnaht, aber die Naht hätte man auch einfach später machen können; da hätten wir noch ganz in Ruhe im Geburtshaus die erste gemeinsame Zeit verbringen können. So musste ich direkt mit dem Rettungswagen ins Franziskus. Also nix mehr mit Kennenlernen, Kuscheln oder Bonding (das ja immer als so wichtig beschrieben wird).
Jule bereitete mich darauf vor, dass im Krankenhaus noch einmal auf meinem Bauch herumgedrückt werden würde, um die Plazenta zu lösen. Das könne noch einmal ziemlich schmerzhaft sein. Was passieren würde, wenn sich die Plazenta auch dann nicht löste, ließ sie offen. Ich dachte es mir aber schön: „Und wenn sie sich dann noch nicht löst, dann holen die die in Vollnarkose da raus, oder?“ Ja, so war es. Tolle Perspektive. Ich hasse Vollnarkose wie die Pest.
Schon nach kurzer Zeit kam eine Rettungswagenmannschaft in das Geburtszimmer gepoltert – zunächst kamen zwei oder drei Rettungshelfer/innen mit jeweils einem riesigen Rettungsrucksack auf dem Rücken; darunter ein junges blondes Mädel, das gefühlt kaum größer war als der Rucksack und ein junger Mann, der sehr eifrig wirkte. Jule und Marit erklärten ihnen noch einmal, was sie direkt bei der Bestellung des Rettungswagens gesagt hatten – dass wir keine Rettungsmaßnahmen brauchten, sondern dass ich nur in das Franziskushospital gefahren werden sollte, weil das so Vorschrift ist, wenn sich die Plazenta nach einer Stunde nicht gelöst hat. Dann gingen die Rettungshelfer wieder raus und es kam ein unglaublich nach Zigaretten stinkender älterer Notarzt in den Raum, dem die beiden auch noch mal erklärten, dass sie ihn eigentlich nicht brauchten. Der wusste auch wohl nicht so recht, was er dort nun anfangen wollte und wollte wohl einfach irgendwie Smalltalk machen. Heraus kam Folgendes: „Ja, vor 300 Jahren sind die Leute danach einfach so aufgestanden und haben weitergemacht. Aber ist ja gut, dass wir die moderne Medizin haben.“ Ääääh, ja. Sollte ich mich jetzt schlecht fühlen, weil ich wegen so einer Lappalie ins Krankenhaus gefahren werden sollte?! Sollte ich aufstehen und mit aus mir heraus baumelnder Nabelschnur mit Plazenta in meinem Bauch zu Fuß ins Krankenhaus gehen? Oder sollte ich so einfach nach Hause gehen und mich nicht so anstellen?! Ich konnte das gar nicht ernst nehmen. Und Jule sagte leise: „Und ist auch gut, dass wir so gutes medizinisches Personal haben…“
Ich zog in der Zwischenzeit ein Shirt an, um nicht ganz so nackt zu sein. Unterhose ging ja nicht so gut.
Nachdem Jule und Marit den Rettungsleuten mehrfach erklärt hatten, dass sie mich einfach nur mit der Liege hier rausfahren sollten – das hätte sonst auch immer geklappt – und mich mit dem Krankenwagen ins Franziskus bringen sollten, stieg ich vom Bett aus auf eine Trage auf Rollen um – mit dem blöden Gefühl, dort jetzt alles vollzubluten. Aber wenigstens sah man das nicht, weil ich eine kuschelige Decke bekam – das war übrigens echt schön – immerhin war ich ja jetzt mehrere Stunden lang nackt bzw. im offenen Bademantel gewesen und als ich die Decke übergelegt bekam, merkte ich erst, dass mir gar nicht so warm war. Die Retter befanden, dass man die Trage nicht durch den Flur rollen konnte und sie mich daher tragen müssten – warum, war mir vollkommen schleierhaft: Da liegt überall Laminat, und Platz zu den Seiten nahm das Rollgestell auch nicht ein. Also gut. Sie hoben mich zu viert hoch – eine davon das Mädel, das zwar nicht gerade dünn war, aber auch nicht wie eine russische Kugelstoßerin aussah. Nach einem etwas umständlichen Wendemanöver standen wir dann im Treppenhaus und ich war echt froh, dass wir nur ungefähr zehn Stufen nach unten mussten. Meine Liege bekam nämlich plötzlich ganz schön Schlagseite. Ich mahnte noch scherzhaft, dass sie mich aber nicht fallenlassen sollten. In Wirklichkeit fühlte ich mich so verwundbar, dass ich echt ein bisschen Angst hatte. Ich wäre auch lieber selbst zum Krankenwagen gelaufen, als diese Prozedur über mich ergehen zu lassen. Man fühlt sich irgendwie gleich schwerkrank auf so einem Ding. Vor der Haustür ging es noch drei oder vier Stufen runter, dann folgen circa zehn Meter Kopfsteinpflaster und dann kommt der Bürgersteig, vor dem der Rettungswagen wartete. Und anstatt mich einfach noch das kurze Stück bis zum Rettungswagen zu tragen – was definitiv schneller und für mich, die Patientin, wesentlich angenehmer gewesen wäre – schnallten die lieben Retter die Trage direkt vor der Haustür auf das Rollgestell und ließen mich – ratter, ratter, ratter – die zehn Meter über das Kopfsteinpflaster holpern. In meinem durch die Geburt noch angeschlagenen Zustand fühlte sich das nicht sehr gut an. Am Ende des Kopfsteinpflasters mussten sie mich wieder von dem Fahrgestell herunterheben, um mich die letzten Meter in den Krankenwagen zu tragen – ich weiß also nicht, ob es überhaupt eine wesentliche Kraftersparnis für die Leute war. Naja. Am Bürgersteig wäre der eine fast noch rückwärts über eine Kante gestolpert, wenn ich ihn nicht gewarnt hätte. Großartig. Ich wollte immer schon mal festgeschnallt hinfallen, ohne mich schützen zu können. Aber glücklicherweise schafften wir es heile in den Rettungswagen. Jule fuhr mit, das fand ich echt super; sonst hätte ich mich echt ziemlich alleine gefühlt. Im Rettungswagen machte die Blonde mir einen Clip an den Finger, mit dem man die Sauerstoffsättigung misst. Und zwar mit den Worten: „Damit wir überhaupt was zu dokumentieren haben.“ Was für ein Schwachsinn. Immerhin bin ich jetzt mal mit einem Rettungswagen gefahren; dann kann ich dieses Erlebnis jetzt auch abhaken und bin damit durch ? .
Im Franziskus musste die Plazenta dann letztendlich unter Vollnarkose entfernt werden und das ist alles gut gegangen. Allerdings muss ich leider sagen, dass die Naht leider nicht gut gelungen ist, so dass ich mich deshalb noch mal einem Korrektureingriff unterziehen muss.
Insgesamt war die Behandlung im Franziskus aber ganz okay – in so einem Klinikbetrieb ist es halt immer ein bisschen Glückssache, an wen man gerade gerät. Aber das ist eine andere Geschichte…
Was ich aber auf jeden Fall noch festhalten möchte ist, dass ich direkt beim Hineingeschobenwerden in den dortigen Kreissaal wusste, dass ich mein Kind dort nicht so ohne Weiteres hätte gebären können. Naja, rausgekommen wäre es mit Sicherheit auch, aber das wäre nicht gutgegangen. Der Raum war klein – vielleicht 10 m² – weiß, funktional und sah nach Krankenhaus aus. Ich hatte zwar bis eben gedacht, dass mir die Atmosphäre im Geburtshaus so ziemlich egal war; jetzt merkte ich aber, dass dies definitiv nicht der Fall war. Wo hätte ich mich hier „verstecken“, also zurückziehen sollen? Wo hätte ich überhaupt mit mir hingesollt, als ich weder ein noch aus wusste mit mir? In diesem kleinen Raum und dann womöglich noch mit mehreren Personen, Hebammen, Ärzten. Es gab hier ohnehin keine großartige Möglichkeit außer dem Bett, das einen Großteil des Raumes einnahm. Und ich hätte es nie im Leben ausgehalten, mich mehrere Stunden lang auf diesem Bett auszuhalten. Ich hatte es während der Eröffnungswehen ja noch nicht mal wenige Sekunden im Sitzen oder Liegen ausgehalten! Ich wäre schlicht und einfach durchgedreht – noch mehr, als ohnehin schon. Im Übrigen hätte ich hier doch auch nicht die ganze Station zusammenschreien können! Ich hatte aber ja schreien MÜSSEN; ich hatte gar keine andere Wahl gehabt. Vielleicht hätte man mir hier dann irgendwann Medikamente aufgeschwatzt, die ich nicht wollte, Opiate oder eine PDA. Und wer weiß, vielleicht wäre es auch im Kaiserschnitt geendet.
Daher war ich echt froh, mein Kind im Geburtshaus bekommen zu haben und ich kann auch jetzt im Nachhinein sagen, dass das genau die richtige Entscheidung war. Die Räumlichkeiten dort waren perfekt für mich und Jule und Marit haben mich einfach in meinem Tempo machen lassen – waren aber immer sofort da, wenn ich sie brauchte.
Ganz herzlichen Dank dafür!
Die Liebesgefühle für mein sooooo süßes kleines Baby kamen übrigens ganz schnell – sobald ich nach der Vollnarkose Zeit hatte, sie in Ruhe zu betrachten. Der meistgesagte Satz zwischen Carsten und mir war seitdem: „Die ist ja sooooooo niedlich!“ Und das finden wir auch nach wie vor 😉
Ganz herzliche Grüße,
Kathrin und Carsten mit Lilith Carlotta
Eine Mama schrieb am :
Seeeeeehr lange, aber auch seeeeehr schöne Geburtsberichte. 🙂 Herzlichen Glückwunsch zur kleinen Lilith.
PS: Im Franziskus gibt es einen größeren Kreißsaal mit Sprossenwand, Gymnastikball, Badewanne, Tuch, Gebärhocker, etc., wo man sich super verstecken kann. Aber ja, die Kreißsäle sind leider winzig.
Marina schrieb am :
Die Berichte sind echt schön. Ich finde den ausgewählten Namen sehr schön. Herzlichen Glückwunsch !