In leichter Aufregung blättere ich am 23.12. nachts gegen halb 3 Uhr nochmal durch die Seiten meines Schwangerschafts- und Geburtsratgebers, um nachzulesen, welche untrüglichen Zeichen mit dem Blasensprung einhergehen. Ich wollte sicher sein, dass nun tatsächlich und wirklich die Geburt unseres Merlins beginnt. Einen Tag zuvor bei der Kontrolluntersuchung hat mir Lisa zwar zugesichert, dass ich noch zu entspannt aussähe um unmittelbar vor der Geburt zu stehen, und im Gespräch mit einer Freundin am Nachmittag habe ich noch darauf verwiesen (und damit eigentlich indirekt einen Appell aussprechen wollen), dass ich mir eine möglichst terminnahe Geburt – und das hieß: im Jahre 2012 – wünsche. Doch das schien nun alles irrelevant zu sein. Denn: ein Bilderbuchblasensprung lässt sich einfach nicht übergehen! Ab diesem Zeitpunkt begann alles anders, alles neu, alles großartig zu sein.
Noch spüre ich keine Wehen, und so warte ich die folgenden 10 Minuten ab, bis sie dann doch einsetzen und ich meinen Mann Adalbert wecke, um ihm mitzuteilen, dass es wohl jetzt losgeht. Unser Merlin will endlich die Welt sehen. In unserem nun aufkommenden freudigängstlichen Gemütszustand ist es dabei dann doch reichlich nebensächlich, dass dies knappe zwei Wochen vor dem errechneten Termin geschieht. Ganz andere und viele, viele mehr Gefühlsstürme toben durch uns. Adalbert ruft als erstes Sabrina an, um sie zu informieren, dass diese Nacht nun die unsrige ist. Gleichzeitig holen wir uns durch sie die Sicherheit für unser weiteres Vorgehen und Handeln. Nachdem geklärt ist, dass die kommenden Stunden allein dafür gemacht sind, Wehen zu veratmen, vereinbaren wir, dass wir uns gegen halb 10 im Geburtshaus treffen, um dort dann den doch etwas spannenderen Teil der Geburt zu erleben. Mir wird bewusst, dass dies nun die letzten gemeinsamen Zweisamstunden mit Adalbert sind.
Laut und vokalfreudig atmend verbringen Adalbert und ich nun die nächsten Stunden, die von beständig häufigerer und längerer Wehendauer beherrschend sind, bei uns Zuhause. Einige Male muss ich an Hanna, die Leiterin meines Geburtsvorbereitungskurses denken und an ihre Worte, dass wir bloß nicht unsere körpereigenen Kräfte vergessen und unterschätzen sollen, die uns durch die Schmerzphase der Wehen führen werden. Und tatsächlich bin ich in einem relativ entspannten Zustand (zumindest entspannter als von mir im Vorfeld gedacht), in dem ich jede Wehe mit Inbrunst wegtöne. Die Pausen zwischen den Wehen ermöglichen es mir, gegen 6 Uhr bei meiner Familie anzurufen, um zu verkünden, dass unsere Familie nun alsbald um ein Köpfchen größer sein wird. Helle Aufregung verbunden mit liebstem Zuspruch und Begeisterung, erschallen am anderen Ende der Leitung. Währenddessen unternimmt Adalbert alle anderen Maßnahmen: sich nochmal hinlegen und ein wenig ausruhen, duschen gehen, die noch fehlenden Sachen für die Geburtsklinik zusammenpacken. Runde um Runde drehe ich derweil im Wohnzimmer, tigere durch die Wohnung und veratme dabei jede Wehe, die nun doch langsam in einem immer flotter werdenden Tempo kommen. Mir erscheinen die Ruhepausen zwischen ihnen immer kürzer und ein leichter Zweifel, ob ich es noch gegen halb 10 alleine in ein Taxi schaffe, befallen mich. Adalbert ruft nochmal Sabrina an und sagt ihr, dass wir denken, sie solle sich unseren Zustand doch lieber selbst einmal anschauen. Sabrina kommt dann auch direkt zu uns. Gegen halb 7 Uhr findet sie mich auf der Couch kniend und die nun starken Wehen mit Ingrimm und Leidenschaft veratmend. 4 cm waren geschafft! Eine Aussage, die mich zur Belustigung und zum inneren Entsetzen treiben. Mit Adalbert vordem noch ganz sicher beschlossen, dass die „schlimme Phase“ bestimmt fast vorbei ist, („bestimmt fehlen nur noch 1 oder 2 cm“) und durch diesen Gedanken eine gewisse Gelassenheit (haha!) entwickelnd, habe ich den Wehen den Schmerz weggepustet. Und nun die Realität: 4 cm. Trotz dieses Faustschlags der Realität gilt es, nach vorn zu schauen! Es wird beschlossen, dass die noch fehlenden 6 cm auf dem Weg zum und im Geburtshaus bewirkt werden sollen. Sabrina fährt also zum Geburtshaus um alles für uns vorzubereiten, während wir uns in aller Ruhe anziehen, und das bedeutet: Wehe veratmen – erster Schuh an – Wehe veratmen – zweiter Schuh an – Wehe veratmen – Mantel an – Wehe veratmen – ausruhen – Wehe veratmen – die 3 Etagen zum Taxi runterlaufen – Wehe veratmen – ins Taxi steigen. Und ab ging die Post! Zum Glück sind es nur wenige Fahrminuten von unserer Wohnung zum Geburtshaus, so dass ich die wenigen Bodenwellen und Straßenschäden wegatmen kann. Adalbert unterhält sich derweil in vorfreudiger Erwartung mit dem Taxifahrer, die scheinbar beide über mein nicht zu überhörendes Gebaren im Hintergrund hinwegsehen.
Beim Geburtshaus angekommen und von Sabrina und Jule begrüßt, legen wir unsere Sachen in dem wunderschön hergerichteten Raum ab (deren wohlig warme Atmosphäre ich erst einige Stunden später genießen kann). Relativ zielstrebig steuere ich auf die bereits vorbereitete Badewanne zu. Das heiße Wasser nimmt mir augenblicklich eine körperliche Grundanspannung – mir ist vordem nicht bewusst gewesen, dass mein Körper bis in den kleinen Zeh hin von den Wehen miteingebunden war. Zwei Stunden verbringen ich und die Wehen in der Wanne, mit Adalbert an meiner Seite, der mich die ganze Zeit unterstützt, nicht nur indem er mich ab und zu an die richtige Atmung erinnert. Sabrina lässt uns in dieser Zweisamkeit außer für regelmäßige Kontrolluntersuchungen, die verraten, ob sich der Muttermund weiter öffnet. Zum Glück tut er es! – Auch wenn es meinem Empfinden nach viel, viel, viel zu langsam ging und ich zweimal wirklich davon ausging, dass ich JETZT aber wirklich nicht mehr könnte. WIRKLICH! Vor allem eine kleine, aber feine Situation ist mir aus diesem Zeitpunkt im Gedächtnis geblieben: Unter der Annahme, dass ich es nicht mehr lange aushalten werde, habe ich Sabrina gefragt, ob der Schmerz noch viel schlimmer würde. Nach einer kurzen Pause des Überlegens hat sie den Kopf geschüttelt und „Nein. Es wird nicht schlimmer.“ gesagt. Eine Antwort, die ich dringend benötigte, um die nötige Kraft und innere Sicherheit zu behalten und aufzubringen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Muttermund um 1 bis 2 cm weiter geöffnet, war also auf 5 bis 6 cm. Bis in alle Ewigkeit – so meine Vermutung – werde ich gegen die Wehen anatmen müssen, werde ich meine U-hu-Laute perfektionieren können, denn wenn bei all den verarbeiteten Wehen lediglich 1 cm gewonnen wird, dann brauche ich nicht auf ein baldiges Ende zu hoffen. Adalbert spürt wohl meine Zweifel und hilft mir mit Worten und lautem Mitatmen, dass uns zu einem Eulenpärchen werden lässt, das in regelmäßigen Abständen U-hu-Laute von sich gibt.
Gegen 9:45 Uhr meint Sabrina ich solle nochmal zur Toilette gehen. Eine wahnwitzige Idee, wie mir scheint. Keinen Fuß werde ich aus der Wanne herausbewegen! Ich KANN gar nicht! Bei DIESEN Wehen in DEN kurzen Abständen! Nach einem kurzen ‚Doch‘-‚Nein‘-‚Doch‘-Dialog sah ich mich aus der Wanne klettern und zur Toilette marschieren. Dort verbrachte ich mit zwei Wehen und dem Wissen, dass ich jetzt nicht mehr in die Wanne zurück möchte. Wasser hilft mir jetzt nicht mehr. Hilfreich war mir in dieser Einsicht vielleicht auch Sabrinas Feststellung, dass der Muttermund mittlerweile 8 cm geöffnet war. Adalbert hält mir weiterhin die Hand und steht mir zur Seite, als die nächsten Wehen kommen. Während ich nach diesen zum Himmelbett gehe, hält Adalbert ein Auge darauf, dass das Wasser in der Badewanne heiß bleibt, falls ich es mir nicht doch noch anders überlege. Kaum das ich auf dem Bett liege, fühle ich mich aber in meinem Gedanken bestärkt, dass ich mich von diesem Bett nicht mehr entfernen wollte und werde. Hier war der Platz an dem Merlin zur Welt kommen soll. In der seitlichen Rückenlage habe ich die kommenden Wehen veratmet. Mir eine stete Stütze im Rücken ist Adalbert, der nie vergisst mit mir zu atmen und damit auch von den Schmerzen ablenkt. Und auch Sabrina ist nun die ganze Zeit bei uns und beobachtet Merlins Puls und Kreislaufwerte. Die Wehen nehmen nun langsam aber sicher den Charakter von Presswehen an. Von einem Moment auf den anderen habe ich nicht mehr das Gefühl, einen unbändigen Schmerz aus mir herausatmen zu müssen. Plötzlich drückt und presst im Unterleib etwas, bei dem man herzlich gerne mitmacht. Dieses Gefühl kam relativ überraschend und es benötigte einige Momente bevor ich dem Drang nicht weiter nachgab, so wie es im Vorbereitungskurs besprochen wurde, sondern wieder alles in die Atmung überführe. Zwei oder drei Wehen tragen diesen neuen Charakter als auf einmal Bewegung in den Geburtsvorgang kommt. Plötzlich sagen mir Sabrina und Jule, ich solle mich vor das Bett hocken, damit Merlin tiefer ins Becken rutschen kann. Erneut sehe ich mich einer „Nein-Doch-Nein-Doch“-Diskussion ausgesetzt, die ich erneut verlor. Unter Gegrummel und der Einstellung, dass das nicht zu schaffen sei, mich aus meinem Zustand heraus irgendwie bewegen zu können, begebe ich mich in die Hocke vor das Bett. Zum ersten Mal sollte ich bewusst den Presswehen nachgeben und ein wenig mitpressen.
Dass dies eine brenzlige Situation war, hat mir Adalbert erst später erzählt. Denn Merlin ist innerhalb von 5-10 Minuten durch das ganze Becken gewandert, was zu einem Kreislaufproblem bei ihm führt. Da nicht abzusehen ist, weshalb sein Kreislauf plötzlich kritisch niedrig ist, muss er schnell auf die Welt kommen. Und deshalb sollte ich mich bewegen. Von all dem nichts mitbekommend, sehe ich mich lediglich in meiner Wehenveramtungstrance unterbrochen und erhebe Einspruch gegen diese Störung. Dass dieser Positionswechsel und das Pressen erfolgreich ist, bemerke ich durch das Spüren seines Köpfchens. Wahnwitzig fand ich dementsprechend die nach einigen Minuten kommende erneute Anweisung von Sabrina und Jule, ich solle mich jetzt mal wieder aufs Bett legen. Was habe ich für eine Angst davor, ihm dabei weh zu tun! Mit allgemeiner Unterstützung habe ich mich dann aber doch wieder in die Seitenlage auf das Bett gelegt und versucht, aktiv bei den Wehen zu pressen. Versucht, weil es anfangs gar nicht so leicht war, nach all dem Veratmen in der Seitenlage plötzlich in der aktiven Rolle die Kräfte in ein sinnvolles Pressen zu führen. Kurz muss ich richtiggehend lernen, die Kraft des Pressens auch in der Seitenlage in ein ‚Abwärtspressen‘ zu kanalisieren. Nach zwei Wehen klappt es dann aber langsam. Diese gesamte Situation hindurch sorgen Sabrina und Jule zwischen ernstem Ton „Los Gabi, du musst jetzt nochmal kräftig pressen!“ und lobendem Anfeuern „Super machst du das!“ dafür, dass ich jede Wehe wirklich nutze, Merlin schnell auf die Welt zu bringen. Jule reibt meinen Bauch zusätzlich mit wehenförderndem Tee ein, damit zwischen den einzelnen Wehen keine allzu lange Pause (oder wie mir scheint: eigentlich gar keine) entsteht. Jede Wehe wird nun intensiv zum Pressen genutzt und dann sehe ich plötzlich sein Hinterköpfchen. Glucksen könnte ich vor Freude. Doch noch verschwindet er vorbildlicher Weise einmal, um erst mit der nächsten Wehe ganz herauszukommen. Und dann fehlen einem die Worte.
Alles ist gut und so wie es sein soll. Merlin liegt auf meiner Brust, schreit, hat der Welt bereits erstes Kindspech gegeben und ist vollkommen wohlauf. Mit ihm ist unsere kleine Familie geboren. Da ist es 10:38 Uhr.
Etwas später haben Adalbert und Jule die erste Untersuchung mit ihm gemacht, bei der voll Begeisterung festgestellt wurde, dass Merlin 10 Fingerchen und 10 Zehchen hat, während ich noch unkomplizierte und schmerzfreie Nachwehen hatte, die von Sabrina begleitet wurden. Alles war gut. Drei Stunden verbrachten wir in beglückter Dreisamkeit im Geburtshaus bis wir mit einem Taxi nach Hause gefahren sind. Glücklicherweise musste ich nicht genäht oder anderweitig untersucht werden, so dass wir uns alle drei direkt Zuhause zusammenkuschelten um unser Glück in unaussprechlicher Weise gar nicht fassen zu können.
Mit dem ersten Besuch im Geburtshaus, dem Kennenlernen unserer Hebammen und dem Umgang und der Einstellung zu Geburt und Schwangerschaft war ich mir so sicher, dass es für unsere kleine Familie keinen besseren Ort wird geben können, um zueinander zu kommen. Ich bin unendlich dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, im Geburtshaus und damit in genau der von mir erwünschten Atmosphäre unser erstes Kind zur Welt zu bringen und ihm damit einen liebevollen, intimen und warmherzigen Empfang in unsere Welt zu ermöglichen.
Für eure Hilfe Sabrina und Jule danken wir euch!
Und Dank auch an Hanna, die uns super auf das, was kam, vorbereitet hat!
Gabi & Adalbert & Merlin